Dem Multiversum Gerechtigkeit widerfahren lassen

«Dark Matter» von Blake Crouch ist eine packende Sciencefiction-Geschichte von einem Mann, der zwischen den Multiversen verloren geht und herausfinden muss, welches aus unendlich vielen Universen denn nun seine Heimat ist.

Wie hier im Blog an diversen Stellen zu lesen ist, mag ich Bücher mit alternativen Realitäten: Sie haben das Potenzial für spannende Unterhaltung und Einblicke in fantastische Parallelwelten. Doch da ist noch mehr. Ich finde nämlich, dass ein vernünftiger Mensch gar nicht anders können sollte, als sie zu lesen.

Natürlich, diese Überzeugung ist nun erklärungsbedürftig. Sie hat damit zu tun, dass ich nicht an die Vorbestimmung glaube. Wir leben nicht in einer deterministischen Welt. In jeder Sekunde gibt es unterschiedliche Wege, die die Menschheit als ganzes und ich als Individuum gehen könnte. Es gibt unendlich viele Einflussfaktoren – und viele haben mit der unmittelbaren Situation, dem Zufall und den Umständen zu tun. Und dem, was man gemeinhin als Glück bezeichnet.

Wie würde der bestmögliche Verlauf des eigenen Lebens aussehen?

Darum muss es jedem einleuchten, dass der Lauf der Dinge auch ganz anders sein könnte. Auch man selbst würde ein vielleicht völlig anderes Leben führen, wenn nur ein paar Dinge anders verlaufen wären. Das weckt, so finde ich, die Neugierde – und manchmal auch ein bisschen Sehnsucht. Ich würde nämlich schon sehr gern wissen, wie der bestmögliche Verlauf meines Lebens aussehen würde.

Als vernünftiger Mensch bin ich allerdings auch ganz froh, dass es völlig unmöglich ist, das zu wissen. Denn natürlich wäre das Unglücksgefühl genauso gross wie die Diskrepanz zu diesem bestmöglichen Verlauf.

Doch immerhin gibt es Bücher, die diese Neugierde und Sehnsucht bedienen. Die das Multiversum vor uns auffächern und aufzeigen, wie es besser oder schlechter hätte laufen können und wie es wäre, zwischen den Möglichkeiten zu springen. Und das allerbeste Buch zu diesem Thema, das habe ich gerade gelesen. 

Vom College-Professor zum Wissenschaftsgenie

Völlig überraschend – denn die Beschreibung hat mich nicht so richtig gepackt:

«Bist du glücklich mit deinem Leben?»

Das sind die letzten Worte, die Jason Dessen hört, bevor ihn ein maskierter Mann niederschlägt. Als er wieder zu sich kommt, ist er an eine Trage gefesselt und umgeben von Fremden in Schutzanzügen. Ein Mann, dem er noch nie begegnet ist, begrüsst ihn mit den Worten: «Willkommen zurück, alter Freund.»

In dieser Welt, in der er aufwacht, kehrt er nicht in sein Leben zurück. Seine Frau ist nicht seine Frau. Sein Sohn wurde nie geboren. Und Jason ist kein einfacher College-Professor, sondern ein gefeiertes Wissenschafts-Genie, das etwas Bemerkenswertes erreicht hat. Etwas Unmögliches.

Das klingt etwas abgeschmackt: Nach einer Liebesgeschichte auf Groschenromanniveau, die nicht besser wird, wenn man sie über mehrere Universen verteilt. Und es lässt einen vermuten, dass man es mit einer Hauptfigur zu tun bekommt, die ihr Leben in Frage stellt und die verpassten Chancen beweint. Natürlich liegt das auf der Hand, weil man selbst sich diese Fragen stellt – aber man will nicht unbedingt einer literarischen Figur dabei zusehen wie sie es tut.

Unendliche Spannung über alle Multiversen hinweg

Und das zeigt auch das Problem des Genres auf. Theoretisch sind Multiversum-Geschichten unendlich spannend, weil sie sich aus einem unendlichen Fundus bedienen können. In der konkreten Ausführung entscheidet sich ein Autor dann doch für ein abgeschmacktes Melodrama oder verabreicht ein überzuckertes Knallbonbon, weil er die Uneindlichkeit irgendwie auf das Format eines Hardcovers eindampfen muss.

So geschehen zum Beispiel bei Frank Schätzing und seinem  Buch «Die Tyrannei des Schmetterlings». Viel Potenzial, aus dem Schätzing leider nicht viel herausgeholt hat (siehe Ob sich Schätzing da nicht verschätzt?).

Doch nun bin ich Dark Matter (Amazon Affiliate), zu Deutsch Dark Matter. Der Zeitenläufer (Amazon Affiliate) von Blake Crouch begegnet. Das Buch hat mich auf allen Ebenen überzeugt:

  • Es befriedigt die Neugierde auf andere, abgefahrene Paralleluniversen.
  • Es hat eine Hauptfigur, die aus einem guten Grund durch diese Paralleluniversen hetzt – und natürlich hat dieser Grund mit seiner Familie und seiner grossen Liebe zu tun, aber es ist trotzdem keine schnulzige Liebesgeschichte.
  • Trotz der komplizierten Ausgangslage – in einer Besprechung hat einer die mit den Worten «The Theory of Schrodinger’s Cat Meets Rick & Morty» zusammengefasst – ist es eine leichtfüssige Lektüre.
  • Und es gibt im letzten Viertel eine überraschende Wendung, die angesichts der Ausgangslage zwar naheliegend ist, die mich dann aber doch auf dem falschen Fuss erwischt hat. An einem Punkt in der Geschichte, wo das Happy-End in Greifnähe scheint, konfrontiert sie die Hauptfigur mit einem neuen Dilemma von übermenschlichem Ausmass. Da kann man nicht anders als mitzufiebern und sich zu fragen: Was zum Teufel hätte ich an seiner Stelle gemacht?

Spannend und unterhaltsam

Übersetzbar mit «Dunkle Materie». Aber natürlich auch mit einer düsteren Angelegenheit.

Fazit: Ich weiss nicht, ob die Geschichte zu hundert Prozent aufgeht. Es gibt sicherlich kleinere Ungereimtheiten. Zum Beispiel die, dass das Ereignis, mit dem es der Protagonist gegen Ende zu tun bekommt, an sich schon dem Antagonisten am Anfang der Geschichte hätte in die Quere kommen können.

Aber egal – die Geschichte ist schlüssig genug, um einen hervorragend zu unterhalten. Sie wird dem Multiversum gerecht. Und auch Stil und Sprache von Blake Crouch sind der Sache angemessen – auch wenn die anfänglich nicht sonderlich prägnant wirken, sitzen Beschreibungen und Metaphern. Und die Ausdrucksweise passt gut zum Ich-Erzähler, der schliesslich ein Physiker ist.

Also, wer mit meinen Empfehlungen hier nur ein bisschen etwas anfangen kann, der sollte dieser Geschichte eine Chance geben. Auch das Hörbuch, im Englischen von Jon Lindstrom gelesen, ist der Aufgabe gewachsen.

Achtung, ab hier ist mit Spoilern zu rechnen!

Und hier noch eine kurze Zusammenfassung, die nicht gelesen werden sollte, wenn das Buch noch ungelesen ist. Denn man kann nichts über diese Geschichte erzählen, ohne Spoiler von sich zu geben.

Jason Dessen, der Ich-Erzähler, ist Physiklehrer an einem College. Er lebt ein unspektakuläres Leben mit seiner Frau Daniela und seinem Sohn Charlie. Es sollte bloss ein feuchtfröhlicher Abend mit seinem Freund Ryan Holder werden. Mit dem hat er während seiner College-Zeit das Zimmer geteilt und der hat gerade den renomierten Pavia-Preis gewonnen. Auf dem Heimweg wird Jason von einem maskierten Fremden entführt. Er muss sich an das Steuer eines Autos setzen, durch seine Heimatstadt Chicago in ein ehemaliges Kraftwerk fahren, wo er eine Injektion erhält.

Jason erwacht in einer Welt, wo er begeistert empfangen wir. Er sei nach Monaten zurückgekommen, sagen ihm begeisterte Leute, die er noch nie gesehen hat. So lange wie er sei noch keiner weggeblieben. Und Jason sollte erzählen, was passiert ist. Doch er hat keine Ahnung.

Seine Frau ist gar nicht seine Frau

Es dämmert ihm erst nach und nach, was passiert ist – nachdem er seine Frau Daniela bei ihrer Vernissage besucht. Sie ist nicht seine Frau, sondern trägt ihren Mädchennamen Vargas. Die Frage nach Charlie quittiert sie mit einer erstaunten Gegenfrage: «Wer ist Charlie?»

Nach der Vernissage nimmt ihn Daniela mit nach Hause in ihr Apartment. Auch Ryan Holder ist dabei, mit dem sie nun offenbar ein Techtelmechtel hat. Jason macht einige Andeutungen zu seinem Problem. Doch während Daniela gewillt ist, ihm zu glauben, macht sich Ryan davon. Jasons Versuch, mit der Situation klarzukommen, ist nicht von Dauer. Eines Nachts steht ein Mann vor der Tür, der sich nicht abwimmeln lässt.Der ungebetene Besucher verpasst Jason einen Stromschlag mit dem Taser. Und Daniela eine Kugel in den Kopf.

Hinter der Sache steckt der Springer: Der Mann, der in dieser Welt sein Chef ist. Er will ihn offensichtlich nicht einfach so vom Haken lassen. Er hält Jason im Keller seines Unternehmens Velocity Labs fest, obwohl er ihm die Geschichte mit den Gedächtnislücken anfänglich glaubt. Er gibt ihm sogar einen Laptop, in dem er die Details über seine Forschung nachlesen kann.

Und da erfährt Jason, dass er in dieser Welt eine unglaubliche Erfindung gemacht hat, für die er mit dem Pavia-Preis ausgezeichnet worden ist. Er hat es nicht nur geschafft, ein Teilchen in molekularer Grösse in einen Quantenzustand zu versetzen. Nein, er hat sein Experiment auf menschliche Dimensionen vergrössert.

Die Box, die Türen zwischen Universen öffnet

Mit seiner «Box» ist es möglich, sich zwischen den Paralleluniversen zu bewegen. Von denen gibt es unendlich viele. Jede Variation in der Geschichte, jede denkbare Verlaufsvariante einer persönlichen Biografie ist irgendwo in diesem Multiversum passiert. Und Jason 2 – der Jason aus dieser Welt, der die Erfindung gemacht hat, aber Single und kinderlos geblieben ist –, der hat sich offensichtlich entschieden, den Platz von Jason 1 einzunehmen und nun Familienvater und Ehemann zu sein. Auf Kosten von Jason 1, der seine Stelle einnehmen sollte.

Als Jason (1) noch überlegt, wie er wohl verfahren könnte, plaudert Ryan Holder darüber, was Jason ihnen erzählt hat. Springer erfährt, dass die Sache der Gedächtnisverlust nur eine Notlüge war, und vorbei ist es mit seiner Geduld: Er habe Milliarden in ihn und seine Erfindung investiert, sagt er. Und er werde nicht auf die Rendite seines Investments verzichten. Holder muss über die Klinge springen und Jason hätte das Tageslicht nie mehr gesehen, wäre nicht Amanda Lucas vom schlechten Gewissen gepackt worden. Sie ist die Psychiaterin, die Jason begutachtet hat. Und sie verhilft ihm zur Flucht.

Das perfekte Versteck

Sie schaffen es zu der «Box», Jasons Erfindung. Mit deren Hilfe fliehen sie in einen höheren Quantenzustand. Das ist ein perfektes Versteck, denn selbst wenn ihnen jemand folgen würde, begegnet man sich hier nicht. Denn das Multiversum ist wie ein unendlich langer Korridor, indem man irgendwo auftaucht.

Doch nun haben Jason und Amanda ein neues Problem: Wohin sollten sie gehen? Weder die Ursprungswelt von Jason 2 noch die von Jason 1 ist wieder aufzufinden. Sie versuchen es nach dem Zufallsprinzip und landen mal in einem vom Atomkrieg zerstörten Chicago, dann in einer futuristischen, scheinbar perfekten Welt, in der für die Menschheit alles viel besser gelaufen ist. Auf der weiteren Suche gibt es auch eine Welt, in der die Menschen – auch Daniela und Charlie – an einer schrecklichen Krankheit sterben. Und eine Winterwelt, in der alles Leben fast erfroren ist.

Und so langsam merken sie, dass ihre Gedanken und ihre Gefühle sie leiten: Das, was sie beschäftigt, widerspiegelt sich auch in der Welt, die sie aufsuchen. Denn die Unendlichkeit ist gross genug, dass es für jeden Gemütszustand ein Universum gibt, das ihn repräsentiert.

Wie erreicht man nun das richtige Chicago?

Also versucht Jason, sich «sein» Chicago vorzustellen: Mit allen Eigenheiten, den kleinen Fehlern und Maken. Und tatsächlich. Sie kommen der verlorenen Welt erstaunlich nahe – aber ohne sie wirklich zu erreichen. Jason sieht Daniela und Charlie, doch immer zeugt irgend ein kleines Detail davon, dass sie nicht ganz das richtige Universum erwischt haben. Aber Jason und Amanda können nicht unendlich suchen: Sie benötigen für ihre Reisen durchs Multiversum eine Droge, von der sie genau 50 Ampullen im Gepäck haben.

Mit sinkender Hoffnung wird Jason zum Stalker und zum Verzweiflungstäter. Und so langsam wird ihm klar, dass er wie Jason 2 in der Lage wäre, sein anderes Selbst aus dem Weg zu räumen, um sein altes Leben zurückzubekommen. Doch vorerst siegt die Moral.

An dieser Stelle steigt Amanda aus. Sie begibt sich mit ihrem Anteil der Ampullen heimlich zurück in die Box und verschwindet. Sie lässt einen Brief zurück, indem sie klarmacht, dass sie diesen Schritt schweren Herzens tut – und nur deswegen, weil sie Jason nicht helfen kann. Und sie gibt Jason den Tipp, auf seine Gefühle zu hören. Er habe beim Versuch, das richtige Paralleluniversum zu finden, immer nur auf Sachlichkeit gesetzt, eine möglichst exakte Beschreibung seiner Welt. Aber nie das ins Feld geführt, was er fühlt, wenn er an seine Heimat denkt.

Und das hilft Jason 1 schliesslich, die richtige Welt zu finden – und einen Plan zu schmieden, wie er Jason 2 ausschaltet. Es ist ihm klar, dass er ihn liquidieren muss, weil Jason 2 genau weiss, wie er zurückkommen könnte. Als er eine Waffe kaufen will, erfährt er, dass er längst nicht der einzige ist, der das tun wollte. Es wimmelt in dieser Welt offenbar von Jasons, die alle ihre Frau und ihren Sohn zurückhaben wollen.

Die Zeitleisten mutieren

Denn klar: Bei jedem seiner Trips durchs Multiversum sind wiederum neue Verlaufsvarianten entstanden. Das würde normalerweise unbemerkt bleiben. Nicht aber in dem Fall, wo die anderen Jasons ebenfalls eine Möglichkeit haben, genau dieses eine Universum aufzufinden. Da steht er nun in Konkurrenz mit einer unbekannten Zahl von Doppelgängern, Abspaltungen von sich selbst, die alle um die gleiche Familie buhlen.

Man fragt sich natürlich, wie das ausgehen soll: Alle können nicht zum Zug kommen. Aber alle haben das gleiche Recht, ihr altes Leben zurückzubekommen. Eine faire Lösung gibt es nicht. Sollen alle verzichten? Oder soll der raffinierteste überleben?

Es ist absurd und wird noch absurder

Das ist absurd, und es wird noch absurder: Einer der Jasons hat einen Chat eingerichtet, über den die Rivalen sich unterhalten, verbünden und gegeneinander verschwören. Und Jason trifft eine seiner Abspaltungen auf ein Bier in einer Bar. Dabei werden zwei Dinge klar: Dass das tatsächlich er ist. Und dass auch dieser Jason gewillt ist, für sein Ziel über die Leichen aller seiner Ichs zu gehen.

Natürlich öffnet Blake Crouch, dem (einzigen) Ich-Erzähler den Weg zum Happy End. Jason 1 findet einen Weg, seine anderen Ichs durch einen für die unvorhersehbaren Schachzug, ein rein zufälliges Manöver abzuhängen. Und er macht sich mit seiner Familie ins Multiversum auf und davon, um ein neues Heimatuniversum aufzusuchen…

Beitragsbild: Ist das das richtige Chicago? (Nancy Bourque/Pexels, CC0)

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