Ein Mann spricht ernsthaft mit einem Jungen, der genervt die Augen rollt und die Finger in die Ohren steckt. Beide sitzen draussen auf Stühlen.

Die Top Ten der dümmsten Social-Media-Phrasen

Welches die ab­ge­dro­schensten Phra­sen, dümm­sten Plat­ti­tü­den und hohlsten Re­de­wen­dungen auf Linked­in, Twit­ter, Blue­sky und Face­book sind – und was sie über die Leute ver­ra­ten, die sie ge­dan­ken­los ver­wen­den.

Wenn man die gleiche Floskel zum hundertsten Mal auf Linkedin, Twitter, Facebook oder Bluesky liest – was denkt man sich dann?

Natürlich: Da hat wieder einer in die Binsen-Zauberkiste gegriffen und eine rhetorische Figur herausgezogen, die seiner (eventuell banalen) Botschaft ein bisschen Würze verleiht. Denn in der Wirkung sind vorgestanzte Sätzchen nicht zu unterschätzen: Sie beschwören augenblicklich eine Pose herauf, sodass wir genau wissen, mit welcher Attitüde sich ein Mensch hier der Weltöffentlichkeit (oder seiner mickerigen Followerschaft) präsentiert.

Darum hier die Top Ten jener Floskeln mit einer kurzen Interpretation, die ich andauernd im Netz lese:

10) Über den Tellerrand hinausschauen (Think outside the box)

Diese Phrase will kreative oder unkonventionelle Ideen suggerieren, ist selbst inzwischen leider unkreativ und konventionell.

9) Nochmals zum Mitschreiben (Read that again)

Überheblich, meistens deplatziert und von einer arroganten Dramaqueen-Allüre zeugend.

«Social-Media-Beitrag über KI im Content-Marketing mit Text zu den Grenzen von KI-generierten Artikeln. Unten ein Nahaufnahmefoto einer Person mit Pflanzen im Hintergrund.»
Die Floskel «Nochmals zum Mitschreiben» ist der Höhepunkt einer Standpauke, die eine gewisse Berechtigung hat, in ihrer Aggression aber überzogen wirkt.

8) «Hört mich an» (Hear me out)

Je nach Person hören wir diesen Satz mit einem flehentlichen Unterton oder mit der Intonation von Putin vor der Duma, wo das Publikum gar keine andere Wahl hat, als zuzuhören. Das ist die Masche der faulen Leute, die nicht willens oder fähig sind, im ersten Satz zu erklären, warum wir ihnen zuhören sollen.

7) «Bin ich der einzige, der  …» (Am I the only one)

Nein. Spürbar ist allerdings das Bedürfnis, aus der Masse der Social-Media-Poster herauszuragen. Tipp: Das gelingt besser, wenn man nicht zum tausendsten Mal eine fade Redewendung rezykliert.

6) «Hot take»

Was heisst das überhaupt? Laut Wikipedia handelt es sich um einen «bewusst provokativen Kommentar, der fast ausschliesslich auf oberflächlicher Moralisierung basiert». Man würde eine eigene Aussage nicht unbedingt so kategorisieren wollen. Es sei denn, man ist dumm oder hat die erklärte Absicht, die Leute zu belehren, alles sei bloss ironisch gemeint gewesen.

5) «Als jemand, der …» (As someone who)

«Als jemand, der seit 250 Jahren Schweine auf der Bettmeralp hütet und fünf Prozent Neandertaler in seinem Genom hat, kann ich euch mit Bestimmtheit sagen, dass Homeoffice überschätzt wird!»

4) «Lass das sacken» (Let that sink in)

«Ach, seht her, wie tiefgründig ich heute wieder bin!» Da diese Wendung vor Pathos trieft, ist mutmasslich auch der Rest des Posts affektierter Mist.

Die Steigerungsform dieser Floskel ist Elon Musk, der sich dabei fotografieren lässt, wie er mit einem Waschbecken (Sink) ins Twitter-Hauptquartier hineinmarschiert.

Eine Person betritt ein modernes Bürogebäude und trägt ein Waschbecken. Im Hintergrund sind Glaswände und eine Empfangstheke zu sehen.
So huere luschtig, Elon!

3) «This!»

Typischerweise gefolgt von einem Emoji-Finger, der auf einen Drüko (👆), Druko oder das angehängte Bild zeigt (👇). In der maximalen Verkürzung ist das ein Schrei um Aufmerksamkeit in der Pose, dass man gerade eine unumstössliche, weltverändernde Erkenntnis zu verkünden hat.

2) «Unpopuläre Meinung» (Unpopular opinion)

Der Widerstand sei programmiert, deutet der Autor an. Damit stilisiert er sich zum Widerstandshelden hoch, der wagt, gegen Normen «anzudenken»: Das ist das allerabgeschmackteste Motiv, das uns nicht erst seit Corona zum Hals heraushängt.

Ein Mann in Anzug hält eine weisse Taube frei. Hintergrund: blauer Himmel. Text oben: Meinungsäusserung zur Eignung für den Friedensnobelpreis.
Popular Opinion: Nein.

1) «Repost, wenn du zustimmst» (Repost if you agree)

Solche verzweifelten Betteleien um Engagement sind peinlich – auch wenn sie omnipräsent und in vielen Bereichen gang und gäbe sind: Youtuber, die finden, man solle ein «Abo dalassen», oder Podcasterinnen, die uns beknien, wir sollen die Glocke drücken – letzteres hat auch eine unangebrachte sexuelle Konnotation.

In den sozialen Medien gibt es unzählige Varianten dieser Methode. Besonders blamabel, weil die Leute einzeln an Bord geholt werden, ist die Aufforderung «Markiere jemanden, der das sehen muss» (Tag someone who needs to see this!).


Anhang: Welches Sprachmodell bei der Recherche hilfreich war

Obige Beispiele habe ich selbst gesammelt. Trotzdem hat mich interessiert, wie hilfreich die Sprachmodelle gewesen wären, wenn ich mich ganz auf sie verlassen hätte:

  1. Claude landet verdientermassen auf dem Siegerpodest.
    Er liefert vier Beispiele, die auch auf meiner Liste stehen, obendrein toll nach Funktion sortiert: dramatische Einstiege, künstliche Spannung, Pseudo-Bescheidenheit, Storytelling-Formeln und Engagement-Hacks.
  2. ChatGPT schafft es auf dem zweiten Platz.
    Er nennt ebenfalls vier meiner Beispiele, aber ohne die schöne Strukturierung von Claude.
  3. Apertus wird überzeugender Dritter.
    Das Schweizer Sprachmodell ergänzt meine Liste mit mehreren Perlen – siehe unten.
  4. Grok gibt interessante Müsterchen.
    Die meisten sind leider nicht allgemeingültig. Zum Beispiel die überstrapzierte Phrase «KI wird dich nicht ersetzen, aber jemand, der KI nutzt, wird es tun».
  5. Mistral Le Chat lässt es an Spritzigkeit vermissen.
    Das französische Sprachmodell hält immerhin ein brauchbares Beispiel bereit.
  6. Perplexity offenbart Mittelmass.
    Die Phrasen sind nicht verkehrt, aber sie sparken keine joy.
  7. Gist.ai hat die Aufgabe nicht verstanden.
    Das «gerechte» LLM (siehe hier) liefert Floskeln aus dem Geschäfts- und nicht aus dem Social-Media-Bereich. Doch die Beispiele sind gut ausgewählt.
  8. Gemini ist (wie meistens) lahm.
    Eine einzige Floskel gefällt: «Ich bin heute um 5 Uhr aufgestanden und habe etwas getan, was euch als Lektion über Produktivität und Erfolg dienen soll!»
  9. Meta AI versagt völlig.
    Zuckerbergs KI kennt kein einziges originelles Beispiel – obwohl dieses Sprachmodell mit Milliarden von Floskeln trainiert worden sein muss.

Aufmerksame Leserinnen und Leser haben es bemerkt: Die Rangliste hält eine Überraschung bereit. Das Schweizer Sprachmodell Apertus, vor Monatsfrist noch harsch gescholten, schiebt sich auf den dritten Platz vor. Es hält eine Floskel bereit, die ich mir auch notierte. Und es ergänzt Formulierungen, die hervorragend in die Aufzählung passen:

  • «So machen wir das hier nicht»
    (That’s not how things are done here): «So feiern wir den Status quo und verweigern uns dem Fortschritt!»
  • «Ich werde es nicht schönreden»
    (I’m not going to sugarcoat it): «Wie direkt und unverblümt ich doch bin!»
  • «Eine Sache, von der sie nicht wollen, dass du sie kennst»
    (What they don’t want you to know): typischer Verschwörungstheoretiker-Sprech.
  • «Der Elefant im Raum»
    (Let’s talk about the elephant in the room): Ich getraue mich, das anzusprechen, was niemand sonst sagen will.
  • «Gamechanger»:
    Die deutsche Variante wäre Zeitenwende.

Beitragsbild: Ich (rechts), wenn wieder einer auf Linkedin mir die Welt erklärt (Kindel Media, Pexels-Lizenz).

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