Der sichtbarste Teil der digitalen Intimsphäre

Der Home­screen des Smart­phones ist ein Fas­zi­no­sum: ein exem­pla­risches Beispiel für die Wi­der­sprüch­lich­keit des mo­dernen Lebens. Ich versuche, es zu er­grün­den und dabei nicht allzu selbst­of­fen­ba­rend zu werden.

Wäre ich ein Psychologe, dann wüsste ich sofort, was das Objekt meiner Forschung wäre: Der Homescreen des Smartphones – und was er über uns Menschen aussagt.

Auf den ersten Blick scheint diese Idee unsinnig und die Sache banal: Der Homescreen ist eine simple Notwendigkeit. Er ist da, weil die Einsatzmöglichkeiten eines modernen Smartphones riesig sind und irgendwie organisiert werden müssen. Er steht in der Tradition der Desktop-Betriebssysteme, von denen die wesentlichen Elemente wie Icons, Widgets und das Dock übernommen wurden. Der Homescreen lädt uns Anwenderinnen und Anwender dazu ein, unsere Apps nach unseren Bedürfnissen zu organisieren.

Entsprechend widerspiegelt er unsere Prioritäten bei der Nutzung des Smartphones: Wer vor allem konsumiert, hat den Browser und Youtube zuvorderst. Bei Gamer sind es die Games. Und bei den Entscheidungsträgern in den Teppichetagen halt Microsoft Teams, Trello, Asana, Todoist, DocuSign und Fintonic. Und was einem sonst vielleicht noch so einfällt.

Trotz enger Grenzen die Persönlichkeit ausleben

Doch so einfach ist es nicht. Zwar setzen die Betriebssysteme unserem Gestaltungswillen enge Grenzen. Beim iPhone müssen wir uns mit dem Springboard abfinden, während bei Android eine Reihe von Launcher-Apps zur Auswahl steht. Trotzdem ist es möglich, diesem Homescreen einen individuellen Stempel aufzudrücken: Wir können viel oder wenig Energie in die Organisation der Apps investieren, einen minimalistischen Stil fahren oder mit einer Unzahl von Apps protzen. Die Icons können pragmatisch organisiert sein, sodass die wichtigsten Apps zuvorderst stehen. Oder wir lassen unseren ästhetischen Ansprüchen freien Lauf und sortieren die Apps nach Farbe. Und in letzter Zeit sehe ich auch häufig das Bestreben, dass sich Smartphone-Nutzerinnen und -Nutzer nicht vom Gerät ablenken lassen wollen und die Organisation so gestalten, dass manche Apps eben nicht einfach zu erreichen sind.

Also: Der Homescreen ist eine Antwort auf die Frage, wie wir mit beschränkten Möglichkeiten unserer Individualität Ausdruck verleihen. Das Hintergrundbild verrät etwas darüber, ob wir nüchtern unterwegs sind oder den Homescreen auch für emotionale Bedürfnisse nutzen – etwa, indem wir ein Hintergrundbild verwenden, das eine tiefere Bedeutung für uns hat, weil es positive Gefühle vermittelt, unsere Stimmung beeinflusst oder uns mit einem Familienmitglied verbindet. Nebst Partnern und Kindern zählen auch Haustiere dazu. Und die pubertierende Anwenderschaft habe ich im Verdacht, dass das Hintergrundbild im Dienst der hormonalen Entfaltung steht.

Privat – oder öffentlich?

Damit sind wir bei der interessantesten Frage angelangt: Ist der Homescreen eigentlich eine private oder eine öffentliche Angelegenheit?

Das Smartphone ist ein persönliches Gerät, das wir nicht einfach so aus den Händen geben – und dessen Sperrcode wir nicht einmal mit unserem Partner oder der Partnerin teilen sollten. Andererseits ist es unvermeidlich, dass Arbeitskolleginnen, Freunde, Familienmitglieder oder Mitreisende im öffentlichen Verkehr einen Blick auf unseren Homescreen oder den Sperrbildschirm erhaschen.

Er ist daher halb öffentlich, halb intim – und das macht es zusätzlich prickelnd. Wie viel zeigen wir? Was verstecken wir? Wenn die Tinder-App prominent auf der ersten Seite des Homescreens prangt, dann vermittelt das eine eindeutige Botschaft. Zumal es beim iPhone mit iOS 18 und bei Android-Telefonen mit der 15. Version des Betriebssystems möglich ist, solche Apps zu verstecken.

Wie ein verstohlener Blick in die Nachbarswohnung

Damit erklärt sich auch die Rubrik Screen share, die Journalist David Pierce in seinem Newsletter «Installer» für «The Verge» pflegt: Hier zeigen Leute aus der Tech-Bubble ihren Homescreen her. Was gleichzeitig etwas Alltägliches-Banales und etwas Persönliches hat. Und für uns, die wir die Screenshots ansehen, ist das vielleicht aufschlussreich – oder auch ein bisschen voyeuristisch. Genauso, wie wenn wir im Mehrfamilienhaus durch die offene Wohnungstür der Nachbarn einen verstohlenen Blick in deren Refugium werfen: Ich kann da nicht widerstehen. Und ich staune jedes Mal, wie unterschiedlich sich Wohnungen mit dem exakt gleichen Grundriss präsentieren können.

Also, lasst mich an dieser Stelle ein wenig harmlosen Smartphone-Exhibitionismus betreiben. Hier seht ihr meinen Homescreen. Links in der Variante vom 2. Oktober 2012, wie ich ihn im Das Startbildschirm-Psychogramm präsentiert habe. Rechts seht ihr ihn in der aktuellen Ausprägung:

Ob sich anhand dieses Vergleichs eine persönliche Entwicklung konstatieren lässt, möge jeder für sich selbst entscheiden.

Wir stellen fest: Wesentliche Dinge sind gleich geblieben, insbesondere die etwas neurotische Neigung, die Apps fein säuberlich nach Kategorien zu organisieren. Einige der Kategorien (Kommunikation, Spiele, TV & Video, Reisen) sind gleich geblieben. Kamera und Browser stehen noch immer oben links. Doch die Nachrichten-App musste Threema weichen und Musik wurde durch Pocket Casts ersetzt. Und ja, dass die Widget-Ansichdt in dieser dicht gedrängten Anordnung ein Plätzchen gefunden hat, grenzt an ein kleines Wunder.

Beitragsbild: Alles andere bleibt im Dunkeln (Pathum Danthanarayana, Unsplash-Lizenz).

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