Eine Kino-Revolution, die ich als echten Fortschritt ansehe, ist das Genre des Found Footage. Das kennt ihr alle von Blair Witch Project, einem Film, der mir seinerzeit das Blut hat in den Adern gefrieren lassen – und das, obwohl ich ihn bei mir zu Hause und zeltend nicht im Wald angesehen habe.
Ich bin auch nicht auf die Behauptung eines damaligen Arbeitskollegen hereingefallen, der meinte, das sei tatsächlich alles echt – was man ihm damals aufgrund das geradezu genialen Marketings der Produktionsfirma nicht als Fakenews hat auslegen können. Doch auch wenn man wusste, dass dieser Film kein authentischer Dokumentarfilm ist, so hat er dennoch seine Wirkung nicht verfehlt.
Es gibt ein Äquivalent bei den Handy-Spielen: Das ist das «Lost Phone»-Genre. Bei dem bekommt man als Spieler ein fremdes Smartphone in die Hände, das man nach Belieben durchforsten darf – wobei sich das authentisch anfühlt, weil man dabei ein echtes Smartphone in den Händen hält.
Es spricht natürlich auch die voyeuristischen Instinkte an, weil man hemmungslos in Dingen herumschnüffeln kann, die einen überhaupt nichts angehen.
Ein gesundes Interesse daran, was Mitmenschen so treiben
Oder, nicht ganz so negativ ausgedrückt: Es ist ein perfektes Vergnügen für neugierige Menschen, die ein gesundes Interesse daran haben, wie ihre Zeitgenossen ticken. Ausserdem gibt einem das Spiel eine perfekte Entschuldigung für die Schnüffelei: Man muss schliesslich herausfinden, wem das Telefon gehört, damit man es zurückgeben kann – und, falls der Vorbesitzer das Smartphone nicht unter harmlosen Umständen verloren hat, will man ihm Hilfestellung leisten. Versteht sich von selbst.

Wie mir neulich aufgegangen ist, gibt es inzwischen ein paar solcher Lost-Phone-Apps, dass man das tatsächlich als eigenes Genre im Bereich der Rollenspiele ansehen kann. Ich habe seinerzeit im Beitrag Dem Voyör ist nichts zu schwör ein solches Game vorgestellt. «MeChat» (siehe Tinder für Vampire) ist eine weitere Inkarnation des Prinzips, die aber vor allem auf In-App-Käufe setzt, um dem Spieler das Geld aus der Tasche zu locken. Das beeinträchtigt den Spass leider ganz beträchtlich.

Die gelungenste Variante, die mir bis dato begegnet ist, heisst «Simulacra». Es gibt sie für fünf Franken fürs iPhone und für Android: Die Rätsel haben genau den richtigen Schweregrad – sie sind einfach genug, dass man das Spiel gut nebenbei spielen kann, ohne sich wie bei klassischen PC-Adventures ausführlich Notizen machen zu müssen. Aber sie sind auch genügend herausfordernd, dass man nicht in einem Rutsch durchs Spiel durchsaust. Und auch der Spanner in uns kommt auf seine Rechnung, indem man sich nicht nur durch fremde Mail- und Chatnachrichten wühlt, sondern auch den Browserverlauf, Fotos und die Video-Logs der Vorbesitzerin ansehen kann. Und man darf sogar in ihre Dating-App einbrechen, die nicht Tinder, sondern «Spark» heisst.
Anna will in ihrem Leben einen Aufbruch wagen

Über die Story sei an dieser Stelle nicht zu viel verraten. Das Telefon gehört Anna Hardy. Ihr treuester Begleiter namens Tobias ist eine Katze. Sie möchte Tierärztin werden, verdingt sich aber an ein Sicherheitsunternehmen namens Faraday Safety, wo sie es mit einem nicht gerade freundlichen Chef und einem gruseligen, sexuell übergriffigen Kollegen namens Murv zu tun bekommt.
Ihr Freund, Greg Summers, ist seinerseits nicht gerade ein Glücksgriff. Er hat sie betrogen und wurde in den Wind geschossen, ist aber nicht gewillt, das zu akzeptieren. Doch Anna will ihn hinter sich lassen und wagt einen Versuch auf der Dating-Plattform «Spark» – auch dank der Überzeugung ihrer Freundin Ashley.
Als wir als Spieler Annas Handy in die Finger bekommen, ist ihr Aufenthaltsort unbekannt. Sie hat schon vorher nicht auf Nachrichten von Greg und Ashley reagiert. Nur auf Jabbr, einer an Twitter erinnernde Social-Media-Plattform, erscheinen Nachrichten unter ihrem Namen. Um herauszufinden, was passiert sein könnte, studieren wir Mails, Chatverläufe, initiieren selbst Anfragen und versuchen, der Sache auf die Spur zu kommen. Das ist ein abwechslungsreiches Unterfangen, wobei es von unseren Handlungen abhängt, ob das Abenteuer ein Happy-End hat oder nicht.
Das ist erst der Anfang

Fazit: Mir macht das Spass. «Simulacra» ist eine moderne Variante des Adventure-Rätsel-Spiels, die einem durch ihre Realitätsnähe einen Extra-Kick verschafft – auch wenn die Illusion nicht so echt ist, dass man tatsächlich glauben könnte, Annas Telefon in den Händen zu halten.
Es wäre spannend zu sehen, wie weit man die Scheinwelt treiben könnte – wenn ein Spielehersteller auf die Idee käme, ein System wie Replika.AI zu verwenden – man beachte übrigens die Ähnlichkeit bei den Namen –, dann könnte es in Ansätzen gelingen, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zu verwischen…
Beitragsbild: Was katzenliebende Frauen so in ihre Mobiltelefone schreiben (Sam Lion, Pexels-Lizenz).