Lädelisterbe 2.0

Es ist nicht mehr zu übersehen: Die Verän­derungen unserer Ein­kaufg­ewohn­heiten schlagen sich auf unsere Innen­städte nieder: Immer mehr Läden ver­schwin­den – doch was kommt an ihrer Stelle?

Als die grossen Einkaufszentren aufkamen, machte das Wort vom Lädelisterbe die Runde. Die Grossverteiler waren schuld am Verschwinden der kleinen Ladenlokale, der Tante-Emma-Läden, kleinen Bäckereien, Metzgereien und Schuhläden; von kleingewerblich geführten Betrieben. Das muss in den 1980er-Jahren gewesen sein; ich erinnere mich an die damaligen Schlagzeilen und medialen Diskussionen.

Das Wort ist wieder da. Und das Phänomen erst recht. Vor drei Jahren haben wir uns im Radio Gedanken dazu gemacht, jetzt ist es nicht mehr zu übersehen:

In der Innenstadt meines Wohnorts, Winterthur, hat es inzwischen so viele leere Ladenlokale, dass der Wandel einem richtiggehend ins Auge springt. Natürlich gab es auch früher Mieterwechsel. Doch inzwischen scheint es zunehmend schwierig, einen Nachmieter zu finden. Beispiel Obergasse 20 hier in Winterthur.

Hier war früher Elektronikhändler Fust zu finden. Seit 2017 findet sich kein Mieter.

Dort war während Jahrzehnten der Elektronikhändler Fust eingemietet. Im September 2017 hat er geschlossen. Das Ladenlokal mit 660 Quadratmetern Fläche steht seitdem leer, abgesehen von einigen Zwischennutzern. «Der Landbote» hat dazu am 9. August 2019 Folgendes geschrieben:

Christian Signer von der Eigentümerfirma aus Basel sagt, es sei «sehr, sehr schwierig», Interessenten zu finden. «Der Laden und die angebotene Fläche mit knapp 1000 Quadratmetern sind für Winterthur einfach zu gross, das scheint im Moment niemand zu wollen.»

Signer gibt sich im Artikel zuversichtlich, es gebe bald eine Lösung. Doch Tatsache ist, dass die Ladenfläche noch immer leersteht.

Zwischennutzung statt dauerhafter Vermietung

Die Vermieter setzen oft auf Zwischennutzung, wie die «Thurgauer Zeitung» am 1. November 2019 recherchiert hat:

Romana Heuberger, die Marketingverantwortliche der Untertor-Vereinigung, sagt, dass solche riesigen Löcher, wie sie auch der Herren-Globus oder der Fust in der Obergasse hinterlassen hatten, eine Negativspirale auslösen könnten. Für Investoren wie Kunden setzten sie unattraktive Signale. Daher sei es enorm wichtig, solche Räume mit Zwischennutzungen rasch wieder zu beleben.

Zwischennutzungen sind Popup-Banken, -Läden und -Ausstellungen, die man in der Stadt an diversen Ecken sieht. Da stellt dann auch mal ein Autohändler ein Elektrofahrzeug ins Schaufenster, damit das nicht so brach ausschaut. Und man sieht Zahn- und Hautarzt-Gemeinschaftspraxen, die sich an bester Lage einmieten, um auch Laufkunden anzusprechen. Ob das funktioniert?

Doch das ist eine Pflästerlipolitik, die das Problem nicht löst. Im Artikel der «Thurgauer Zeitung» bestätigt der alteingesessene Papeterist Urs Schoch den Eindruck, den ich sicherlich mit vielen Winterthurern teile: Es gibt fast nur noch Kleiderläden – und die Entwicklung hat nicht erst gestern begonnen. Schon seit zwanzig Jahren sei sie zu beobachten. Doch jetzt haben «Zalando und der billige Euro sie verschärft», schreibt das Blatt.

Schuld sind die Online-Händler – aber nicht nur

Auch kleine Läden stehen leer.

Natürlich nicht nur Zalando, sondern all die anderen Online-Händler. Und wir können/müssen hier in der Schweiz froh sein, dass Amazon nie so richtig Fuss gefasst hat. Sonst wären wahrscheinlich auch keine Buchhandlungen mehr übrig. (Die auch weniger geworden sind.)

Und betroffen ist auch nicht nur Winterthur mit seiner relativen Nähe zu Deutschland, wo Einkaufstouristen wegen des zeitweise sehr günstigen Euros ihre Shoppinggelüste befriedigten. Das Phänomen betrifft die ganze Schweiz. Am 13.12.2019 schrieb der «Blick» im Beitrag So extrem ist das Lädelisterben wirklich, 32’000 Geschäfte hätten in der letzten Dekade dichtgemacht. Nach Abzug der Neueröffnungen bleibt ein Minus von immerhin 2800 Geschäften:

Besonders gebeutelt waren Kleiderläden. Auf den Plätzen zwei und drei folgen Kioske, die floppten, und Lebensmittelgeschäfte, die dichtmachen mussten. Auch Blumenläden, IT-Buden und Sportgeschäfte essen in den vergangenen zehn Jahren hartes Brot. Sexshops sind praktisch ausgestorben.

Den Sexshop oben im Stadttor beim Hauptbahnhof Winterthur gibt es meines Wissens noch. Aber das ist nicht der Punkt.

Das ist erst der Anfang

Der Punkt ist folgender: Ich bin der Ansicht, dass wir es nicht mit einem temporären Problem zu tun haben. Im Gegenteil – das ist erst der Anfang. Und wenn es so weitergeht, werden die Marktgasse und die Innenstadt Winterthurs schon in fünf Jahren ganz anders aussehen. Der Onlinehandel fordert seinen Tribut – und die ganz Grossen, Migros und Coop, versuchen dagegenzuhalten, indem sie ihre Läden  in Shopping-Erlebnispaläste umbauen. Ob das funktioniert?

Es gibt drei mögliche Wege aus der Misere. Die erste ist eine radikale Senkung der Mieten für die Ladenlokale in der Innenstadt. Das würde neue, spannende Angebote ermöglichen und Tante Emma und anderen Gewerblern, die in den 1980er-Jahren aus den Innenstädten verschwunden sind, die Rückkehr erlauben. Aber wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, dass das passiert, kann sich jeder selbst ausrechnen.

Das gilt auch für die zweite Lösung: Eine Lenkungsabgabe auf Internetbestellungen. Wer bei Zalando, Amazon oder Alibaba ordert, muss einen Obolus leisten. Der kommt dem lokalen Handel zugute und hilft, Innenstädte lebendig zu halten.

Wie sollen unsere Innenstädte in Zukunft aussehen?

Der dritte Weg ist, dass wir uns neue Nutzungsmöglichkeiten für die Innenstädte ausdenken. Statt Läden überall … ja, was denn? Coworking-Spaces? Indoor-Spielhallen für Kinder? Ein Jugendzentrum für jede Alterskategorie und Subkultur? Beizen und Konzertlokale?

Die ersten beiden Lösungswege kranken daran, dass ihre Aussicht auf Erfolg gleich null sind – zumindest, solange wir den Kapitalismus nicht ordentlich zurückbinden. Das Problem beim dritten ist, dass die vielversprechenden Ideen noch fehlen. Jedenfalls wäre jetzt ein guter Moment, mit dem Brainstorming zu beginnen.

Beitragsbild: Nach Jahrzehnten zieht der Elektronikhändler Interdiscount aus der Marktgasse weg. Nebenan ist auch Möbel Pfister ausgezogen.

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