Photoshop kann einpacken

Die Polarr-App für Desktop und Mobilgeräte hält umfangreiche Bildbearbeitungswerkzeuge bereit und überzeugt durch eine einleuchtende Bedienung und einen riesigen Funktionsumfang.

Polarr (fürs iPhone und iPad, aber auch für Android, Mac und Windows) ist die Lieblings-Foto-App von Kollega Peter Wolf, weswegen ich sie mir unbedingt mal ansehen musste.

Links: Diverse Funktionen zur Verschönerung dieses eigentlich nicht mehr verschönerungsfähigen Antlitzes.
Rechts: Eine Photoshop-würdige Gradationskurve.

Und wie immer hat Wolf recht: Die App ist ausgezeichnet. Sie bietet Funktionen, die man vom grossen Photoshop her kennt, zum Beispiel den Befehl zum Verflüssigen. Er gehört zu den wirklich gefährlichen Bildbearbeitungsfunktionen: Richtig eingesetzt ist er äusserst wirksam und enorm manipulativ. Er wird vor allem bei Portraits benutzt, um manche Dinge grösser und andere kleiner zu machen. Typischerweise will man die Lippen etwas voller, Augen bambihaft und Busen ausladender haben. Umgekehrt dürfen Nasen gerne dezenter und Ohren weniger segelohrenhaft werden. Auch die Kantigkeit von Kinnladen wird gerne etwas entschärft.

Das Näschen stubsiger, die Wangenknochen prononcierter

Das Verformen verändert Proportionen, indem ein Näschen stubsiger und Wangenknochen prononcierter werden. Man kann mit dieser Funktion dem Schönheitsideal auf die Sprünge helfen, aber auch cartoonhafte Resultate erzielen. Dieser Filter braucht Expertise, aber wie gesagt: Er verfehlt seine Wirkung nicht und ist schwer zu erkennen.

Polarr beherrscht diverse Verflüssigen-Methoden: Man buchtet Bildpartien aus oder ein (indem man sie quasi nach aussen stülpt oder nach innen drückt). Oder man verzieht sie. Das kann man sich so vorstellen, als ob das Bild aus elastischem Material bestehen würde, sodass man es dort, wo man es anfasst, in alle Richtungen und auch nach oben oder unten verformen kann.

Aber das Verflüssigen – das meines Erachtens eher Verformen heissen müsste – ist erst der Anfang bei der Portrait-Bearbeitung. Die App erkennt Gesichter im Bild entweder automatisch, oder man kann sie über Gesicht hinzufügen manuell auswählen. Sobald ein Gesicht als solches bestimmt ist, kann man die Haut glätten, den Hautton verändern, Schatten im Gesicht abmildern und die Glanzlichter hervorheben. Es gibt auch Standardbefehle für die Nasenbreite, die Lippenfarbe, die Augenschärfe, etc.

Weg mit dem Furunkel!

Störende Dinge wie Pickel, Furunkel oder ähnliches entfernt man nach der klassischen Stempelmethode: Man kopiert ein unversehrtes Stück Haut über den Makel, was in Polarr Klonen heisst. Oder man lässt Dinge vom Algorithmus wegrechnen, was Heilen genannt wird. Das funktioniert natürlich nicht nur bei Portraitaufnahmen, sondern bestens auch bei Landschaftsbildern. Da lässt man gern den Abfallhaufen neben der Sehenswürdigkeit, ein Stromkabel oder lästige Touristen verschwinden. Übrigens: Die deutsche Übersetzung der App ist mehr als fragwürdig. Das Entfernen von Elementen aus dem Bild wird Entfernen Ort genannt. Makes no sense.

Die App stellt direkt unter dem oberen Bildschirmrand Befehle zum Öffnen eines Fotos, zur Portrait-Verbesserung und fürs Hinzufügen von Text bereit. Daneben gibt es eine Taste fürs Rückgängigmachen und einen Knopf für den Bearbeitungsverlauf. Das Netzsymbol daneben stellt Tutorials zu diversen Themen bereit und ganz rechts gibt es die Einstellungen.

In der Befehlsreihe direkt darunter finden sich die Knöpfe für den gerade ausgewählten Bearbeitungsmodus, also fürs Portraitaufhübschen oder den Text.

Die klassischen Bildbearbeitungsfunktionen

Am unteren Rand hat man Zugriff auf die allgemeinen Bildbearbeitungsfunktionen: Farbe, Zuschnitt, Vignette, Toning, Filter, und so weiter. Hier funktioniert die App quasi gespiegelt: Ganz unten gibt es die Hauptkategorien, darüber die Detailfunktionen. Die Detailfunktionen sind dann nochmals aufgeschlüsselt. Wählt man zum Beispiel Vignette aus, werden handorgelartig diverse Einstellungen zu dieser Funktion sichtbar: Grösse, Stärke, Weichheit, Rundung und Vignetten-Highlights.

Und auch am unteren App-Rand ist das Funktionsangebot üppig: Bei der Farbe kann man nicht nur Temperatur, Farbton und Sättigung verändern. Es gibt auch den geschätzten Algorithmus Lebendigkeit, der die Farben aufdreht ohne zu übersättigen.

In der Kategorie Licht stehen nicht nur die zu erwartenden Befehle Belichtung, Kontrast, Helligkeit, sondern auch Highlights, Schatten, Schwarz und Weiss zur Verfügung, sodass man auch ohne Verständnis des Histogramms das Bild in mehreren Helligkeitsbereichen separat anpassen kann. Bei Kurven gibt es aber dennoch eine äusserst klevere Gradationskurve, die direkt übers Bild gelegt wird und bei der man nicht nur summarisch alle RGB-Werte, sondern auch Rot, Grün und Blau separat verändern kann – da ist Photoshop-Power äusserst klever auf den kleinen Handy-Bildschirm verfrachtet worden.

Links: Mit der Tonung lassen sich Schatten und Glanzlichter separat einfärben.
Rechts: Filter lassen sich selbst erstellen, online erwerben oder von Fotos oder sogar via QR-Code importieren.

Bei HSL (für hue, saturation, and luminosity bzw. Farbton, Sättigung und Hellwert) passt man acht Farbbereiche (Rot, Orange, Gelb, Grün, Magenta, Lila, Blau, Auqa) diese Parameter separat an. Man kann so zum Beispiel das Grün eines Baums im Hintergrund gezielt üppiger machen oder ins Bläuliche oder Gelbliche drehen. Oder via Luminanz heller oder dunkler machen.

Das Toning macht das Bild

In der Kategorie Toning färbt man die hellen oder dunklen Bereiche mit einer bestimmten Farbe ein, was oft eine dezente Methode ist, einem Bild eine bestimmte Stimmung zu verleihen, ohne mit einem allzu aufdringlichen Farbstich zu operieren.

Über den Bereich Biegen stülpt man das Bild nach innen oder aussen, was man typischerweise macht, um eine Linsenverzerrung auszugleichen. Auch vertikales und horizontales Verzerren ist möglich. Das verwendet man zur Korrektur oder Abmilderung von stürzenden Linien.

Bei Details schärft man seine Aufnahmen. Man kann sie auch entrauschen, wobei diese Funktion für 4 Franken gekauft werden muss (siehe auch unten). Via Effekte fügt man seiner Aufnahme hübsche Dinge wie die Farbsäume (Chromatische Aberrationen sind mir als Träger einer Brille mit eher dicken Glädern natürlich ein Begriff), Verpixelung und Körnung hinzu.

Links: Der Effekt 80s Moderner Film war kostenlos – und macht das Gesicht noch moderner, als es eh schon ist.
Rechts: Eigene Effekte lassen sich benennen und mit Optionen und Bemerkungen auch der Community zur Verfügung stellen.

Und wenn man denkt, dass das wirklich eine geballte Funktionsladung für so eine App sei, dann entdeckt man zwei weitere Dinge:

Erstens die lokalen Anpassungsmöglichkeiten über Farb-, Radial- und Verlaufsmasken und Pinsel. Damit beschränkt man Bearbeitungen auf einen Bereich des Bildes. Bei den Korrekturmöglichkeiten für Teilbereiche gibt es als In-App-Kauf (5 Franken) eine grosse Zahl von weiteren Möglichkeiten: Unschärfemasken, Belichtung, Einfärbung etc.

Und zweitens die Filter: Die kann man entweder in der App herunterladen bzw. erwerben oder aber – und das ist wirklich nett – selbst bauen. Dazu speichert man seine Änderungen als Filter, sodass man sie bei Bedarf ganz einfach rezykliert. In den Optionen zum Filter gibt man an, ob nur die globalen Anpassungen oder auch lokale Veränderungen, Beschnitt und Texte zum Filter gehören sollen – und man kann ihn auch der Allgemeinheit zur Verfügung stellen.

Filter anwenden und abtemperieren

Wenn man einen Filter anwendet, kann man die Stärke auch zurücknehmen. Das dimmt dann allerdings nicht einfach den Effekt, sondern nimmt nacheinander die Bildbearbeitungsschritte zurück, die man beim Erstellen des Filters angewendet hat.

Beim Kreieren eines Filters lohnt es sich also, erst die Basisbearbeitung vorzunehmen (Farbe, Belichtung etc.) und Spezielles wie die Effekte erst am Schluss zu benutzen: Die kann man dann auch wieder entfernen, falls sie bei einem anderen Motiv nicht so passend sein sollten. Wenn man einen Filter lange antippt, gibt es die Option Zusehen und lernen, bei der der Effekt Schritt für Schritt aufgebaut wird. Ähnlich wie bei einer Photoshop-Aktion erfährt man hier sozusagen das Betriebsgeheimnis eines tollen Effekts. Man kann Filter auch als interaktives Tutorial anlegen.

Und: Man kann Filter auch von anderen Fotos und via QR-Code importieren. Wie das gehen soll, muss ich allerdings noch ausprobieren.

20 Franken fürs Gesamtpaket

Polarr ist kostenlos, kann aber über diverse In-App-Käufe aufgemotzt werden. Das Komplettpaket ist für 20 Franken zu haben. Die Pro-Tools, inklusive Sicherung und Synchronisation der selbstgebastelten Filter kostet 13 Franken. Die lokalen Anpassungen, das Text-Werkzeug, der Entrauscher und Backup für die eigenen Filter sind für jeweils 5 Franken zu haben.

Ferner gibt es auch eine Reihe von kostenlosen Erweiterungen, zum Beispiel die zu Jahrzehnten passenden Filter (Neunziger: Kunstfilm, Achtziger: Negativfilm). Die Filter für die früheren Dekaden (Siebziger: Klassischer Film, Sechziger: Weinlese-Film, Vierziger: Infrarotfilm, Dreissiger: BW-Film, Zwanziger: Abgelaufener Film), plus diverse weitere Filtersammlungen (Landschaft, Hautton, Essen) kosten jeweils 2 Franken.

Fazit: Eine wirklich grossartige App, die schon jetzt mit Snapseed (iPhone/iPad, Android) zu meinen absoluten Lieblings-Bildbearbeitungs-Apps gehört. Sehr umfangreich und eine gute Wahl, wenn man Instagram überdrüssig oder entwachsen ist. Ich bin echt geneigt, die 20 Stutz fürs Gesamtpaket rauszuhauen. Wolf, falls du einen Affiliate-Link für den Apple App-Store hast, lass ihn mich doch wissen!

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