Faule Nachbarschaft

Auf rottenneighbor.com kann man seine Nachbarschaft bewerten. Bleibt die Frage, wieso man das tun wollen sollte.

Heute arbeite ich zu Hause¹ und habe nebenbei zur Berieselung DRS3 laufen. Nachdem mich der Sender mit der Behauptung, Telefonbücher seien überflüssig, zwar aufgeregt², aber nicht zum Umschalten bewegen konnte, kam dann in der «Webnews» genannten Rubrik ein Hinweis auf rottenneighbor.com. Hier kann man seine Nachbarschaft bewerten.

Das klingt nach einer Web-2.0-Anwendung par excellence und nach einer tollen Idee. Wer will nicht gern wissen, wie es um die Nachbarn bestellt ist, bevor er den Mietvertrag unterschreibt, Kartons packt, einen Lastwagen mietet und in eine womöglich von Psychopathen oder notorischen Querulanten bewohnte Gegend zieht?

Web 2.0 mit Googeleien

Nun, die erste Vermutung trifft voll ins Schwarze: Es handelt sich um eine Web-2.0-Anwendung par excellence und um eine typische Mashup-Anwendung: Auf einer Google-Map werden durch grüne und rote Häuschen schöne und fragwürdige Gegenden gekennzeichnet.

Damit ist die Open-Air-Blogging-Saison eröffnet!

Mit der zweiten Vermutung liegt man hingegen voll daneben. rottenneighbor.com ist mitnichten nützlich. Die Schaffhauserstrasse meiner Heimatstadt ist rot geflagt:

da hemmer es nuttehuus vo winterthur

Nun, das weiss man auch so, denn schliesslich gibt es in fast jedem Fenster eine rote Lampe. Zu einem roten Häuschen an der Technikumstrasse steht:

Hier arbeitet Hr. N. in seiner Porzellan-Klinik, die im sein Vater gekauft hat, damit er als «Geschäftsführer» nur sein Existenzminimum erwirtschaften kann, im Zusammenkleben von Scherben. Seit der Übernahme der Klinik bezahlt Hr. N. keinen Unterhalt mehr für seine drei Kinder! (…) Ach ja, als verheirateter Mann war er Wirtschaftinformatiker und verdiente ein sechsstelliges Jahresgehalt!

Das klingt nun mehr nach Denunziation denn nach zweckdienlicher Information. Natürlich sind Webdienste, wo jeder seine Meinung posten kann, anfällig für Missbrauch. Es gibt auch dämliche Kommentare in Blogs, falsche Bücher- und CD-Bewertung auf Amazon, von Frust oder Aggression getriebene Einträge auf Holidaycheck.de oder Ignoranz auf Flickr.com.

Die Fairness bleibt auf der Strecke

Trotzdem. Wenns allzu menschlich wird, dann bleibt die Objektivität und Fairness auf der Strecke. Darum ist das Nachbarschafts-Rating keine gute Idee.

Das gilt auch für Lehrerbewertungen durch Schüler – auch wenn man zu gut versteht, warum Schüler Gegenrecht in Anspruch nehmen wollen. Und ich rate ab vor Websites, wo man die Liebeskünste der Exfreundin, die Erziehungsmethoden seiner Eltern, die Geschenke der Schwiegermutter, die Qualitäten seines Chefs oder die Kinder seiner Freunde und Freundinnen bewerten kann.

Fussnoten

1) Naja, inzwischen bin ich draussen an der Sonne und blogge an diesem tollen Sonnentag unter freiem Himmel im «Kafisatz», einem laut rottenneighbor.com in unverdächtiger Umgebung angesiedelten Winterthurer Kaffee.

2) Natürlich schaue ich Telefonnummern auch immer online nach. Aber, lieber DRS-3-Digital-Redaktor, ich kenne im Gegensatz zu dir auch Leute, die weder Computer noch Handy und keinen Internetzugang haben. Und obwohl ich Freak, Nerd und Internetjunkie bin, würde ich meinen Lebensstil nicht jedem aufzwingen wollen. Es ist ganz in Ordnung, wenn sich manche Leute der Verdigitalisierung unserer Welt verschliessen. Und die schauen Telefonnummern im Telefonbuch nach.

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