Erinnert sich noch jemand ans Blogwerk? Das war der Versuch, mit den Mitteln des jungen Internets ein alternatives Medienangebot auf die Beine zu stellen. Es gab einen technischen Treiber für derlei Unterfangen. Die neu aufkommende Weblog-Software machte es einfach, schnell und unkompliziert Inhalte zu publizieren.
Noch entscheidender war aber die Begeisterung über die neue Freiheit im Netz: Jeder konnte zu seinem eigenen Medienunternehmen werden, ohne über eine Druckerei, eine UKW-Sendeanlage und über eine grosse Redaktion verfügen zu müssen. Man nannte das damals Bürgerjournalismus; später kam auch die Bezeichnung Graswurzel-Journalismus auf.
Am 11. Juni 2006 hat die «Sonntagszeitung» die Erwartungen wie folgt umschrieben:
Auf dem Portal blog.ch sind 1000 Schweizer Blogs registriert, die regelmässig aktualisiert werden. «Wenn man davon ausgeht, dass in nur zehn Prozent der eingerichteten Blogs regelmässig geschrieben wird, sind insgesamt 10’000 bis 20’000 Blogs realistisch», sagt blog.ch-Betreiber Matthias Gutfeldt.
In den USA würden sich die Blogger bereits als «fünfte Macht im Staat sehen», erklärte der Artikel. Und eben: «Die Blogwerk AG versucht, mit Praktikanten das erste Blognetzwerk der Schweiz zu etablieren.»
Jemand in Feierlaune?

Dank der grossartigen Wayback-Machine habe ich den Start-Beitrag von Blogwerk ausgegraben. Er verrät, dass die Anfänge der Idee im November 2005 entstand. Was bedeutet, dass sich die beiden Initianten Andreas Göldi und Peter Hogenkamp überlegen müssen, ob sie zum zwanzigjährigen Jubiläum eine Geburtstagsfeier ausrichten wollen, oder ob das eine Episode in ihrem Leben ist, an die sie sich nicht mehr gross zurückerinnern möchten. Denn das Blogwerk wurde Ende 2014 geschlossen.
Wie wir alle wissen, haben sich die Erwartungen nicht erfüllt. Pauschal gesagt, haben kleine, unabhängige Plattformen keine Chance, kommerziell auf einen grünen Zweig zu kommen – was ich als einer der letzten Blogger-Mohikaner in der Schweiz bestätigen kann. Das Problem ist heute ein Übermass an Content, dem eine limitierte Aufmerksamkeit seitens des Publikums entgegensteht.
Publikumsliebe ist käuflich

Damit sind wir bei der Pointe dieses Blogposts angelangt. Sie ist auch der Grund, weswegen er in der Rubrik Der Online-Shit der Woche abgeheftet ist. Irgendwo im Netz habe ich neulich einen Link zu einem Post auf Blogwerk.com gefunden. Um zu sehen, was daraus geworden ist, habe ich ihn angeklickt. Und siehe da, ich wurde sofort zu getfans.io weitergeleitet, die (nach eigenen Angaben) «Weltnummer-Eins unter den Youtube-Marketing-Agenturen».
Wir kaufen hier nicht nur Views, sondern auch Likes und Abonnenten für unsere Videos: zwölf Milliarden Views, 3,5 Milliarden Likes und 1,8 Milliarden Abonnenten habe Getfans «ausgeliefert», heisst es. 50 Abonnenten kosten 14 US-Dollar, 10’000 Views 67 Dollar.
Mit 4000 Dollar die Millionengrenze knacken

Um richtig einzusteigen, würden wir ein Video haben wollen, das die Millionengrenze knackt. Dafür zahlen wir 4224 Dollar. Nicht billig, aber auch nicht unbezahlbar. Und für viele als Investment in die Karriere hervorragend verkraftbar.
Mit diesem Angebot, das Getfans präsentiert, ohne einen Gedanken an ethische Fragen zu verschwenden, sind wir am logischen Ende der Entwicklung angelangt, die vor zwanzig Jahren mit so viel Enthusiasmus – manche würden es auch Blauäugigkeit nennen – begonnen hat:
Kohle macht man nicht mit dem Verkauf von Inhalten. Kohle macht man, wenn man Aufmerksamkeit zu verhökern hat.
Beitragsbild: Das ist nicht der Blogger, sondern der Mann in der Youtube-Agentur (Alexander Grey, Unsplash-Lizenz).