Ich bog, um es in den Worten Jan Böhmermanns zu sagen, im Internet falsch ab. Meine Irrfahrt führte mich zu Reddit, einer dieser fröhlich sprudelnden Quellen im Netz, aus der sich heute meine Rubrik Online-Shit der Woche speist.
Also, liebe Leserinnen, liebe Leser: Betreten wir die seltsame Welt der Lisa M.¹!
Lisa postet Videos auf Tiktok. Mit einem Clip erzielte sie satte 3,6 Millionen Views: Lisa sitzt im Auto. Sie spricht mit dem Kassier eines Drive-Thru-Restaurants. Sie sagt, sie würde gerne für die Person hinter ihr bezahlen. Ihr Ehemann sei ermordet worden und darum wolle sie jemandem den Tag versüssen: «Cultivating love – one act of kindness at a time», ist der Leitspruch, dem sie folgt.
Liebe und Kommerz
Doch der Mann im Kassierhäuschen ist nicht die einzige erstbeste Person, dem Lisa von der Bluttat in ihrem familiären Umfeld erzählt. In Lisas Tiktok-Kanal geistert der ermordete Ehemann durch fast jedes Videos. Und als Untoter, der keine Ruhe findet, hat es ihn auch in ein Buch verschlagen. Das gibt Lisa im Selbstverlag heraus, und es ist für vier US-Dollar bei Amazon zu kaufen.
Nun erscheint ein Mann auf dem Tapet, dem es wie mir erging: Auch er erwischte eine falsche Online-Abzweigung und landete in Lisas Tiktok-Kanal. Und er hatte dieselbe Regung: Er fand es befremdlich, dass Lisa der ganzen Welt von ihrem toten Mann erzählt. Ich tat das schulterzuckend ab: Jeder Mensch hat das Recht, auf seine Weise mit einem Trauma umzugehen, auch wenn die Tiktok-Karriere während Jahren nicht bei der Bewältigung half. (Der Mord fand schon 2010 statt.)
Doch der Mann – den ich im Folgenden den Reddit-Detektiv nennen werde – ist nicht gewillt, Lisas Aktivitäten hinzunehmen. Nein, er sieht in Lisa die Antagonistin. Er fühlt sich zum Held in unserer Geschichte berufen und will sie mit dem Instrument der Internetrecherche zur Strecke bringen. Er berichtet:
Mit einigen Nachforschungen konnte ich den Mann aufstöbern, um den es geht. Sein Foto in der Todesanzeige taucht in einem der Tiktok-Videos auf. Neugierig habe ich die Todesanzeige gelesen und festgestellt, dass sie dort überhaupt nicht erwähnt wird. Tatsächlich hatte dieser Mann überhaupt keine Frau. In der Todesanzeige heisst es lediglich, dass seine Mutter, seine Geschwister und sogar Cousinen würden seiner gedenken. Wenn sie mit ihm verheiratet war, wie sie behauptet, würde sie dann nicht überhaupt in der Todesanzeige erwähnt werden?
Vielleicht, weil sie seine Mörderin war? Nur so ein Gedanke.
Die Reddit-Ermittler graben tiefer
Der Reddit-Detektiv konfrontiert sie mit seiner Recherche, woraufhin sie ihn blockiert. Eine weitere Person schaltet sich in die Recherche ein und findet heraus, dass die Familie des toten Mannes seit Jahren nichts mehr mit Mia zu tun hatte und sich von ihr belästigt fühlt.
Bei den weiteren Ermittlungen kommt ein Video an den Tag, in dem Lisa behauptet, sie und der Mann hätten im Monat seiner Ermordung sich heimlich das Jawort gegeben. Dass es so gewesen sein könnte, glaubt der Reddit-Detektiv nicht. Stattdessen weist er darauf hin, dass keinerlei Foto aufzufinden sind, die die beiden als Paar zeigen. Es gibt nur eine offensichtlich alte Gruppenaufnahme, auf Lisa neben anderen Leuten steht.
Der Showdown dieser Geschichte steht aus. Trotzdem schlage ich vor, dass wir aus dieser Odyssee und aus Lisas seltsamer Welt verabschieden. Aber nicht ohne darüber zu rätseln, womit wir überhaupt zu tun haben:
- Mit einem Plot, der ein gutes Drehbuch hergäbe?
- Mit einem Auswuchs der True-Crime-Hysterie unserer Tage?
- Mit der (unoriginellen) Erkenntnis, dass Opfer zu sein auch ein Geschäftsmodell ist?
- Ist es die Geschichte einer Frau, die psychische Hilfe und keine mediale Aufmerksamkeit braucht?
- Oder liefert diese seltsame Begebenheit ein Indiz, dass Plattformen wie Tiktok die seelische Not von Leuten ins Unendliche verlängert?
- Und vielleicht zeigt sie auch nur, dass manche Leute skrupellos genug sind, um für ein paar Klicks das Andenken eines toten Menschen zu instrumentalisieren?
Vielleicht geht es euch wie mir: In Momenten wie diesen beschleicht mich eine leise Sehnsucht nach der Zeit, in der es kein Tiktok und kein Reddit gab und im einzigen Medium der Stadt der leitende Redaktor oder die Chefredaktorin gesagt hätte, dass die Story erst ins Blatt oder auf den Sender kommt, nachdem die Fakten gerade gezogen wurden.
Fussnoten
1) Weil ich mich selbst nicht bemüssigt fühlte, eigene Nachforschungen anzustellen und den Sachverhalt zu verifizieren, habe ich Lisa anonymisiert. ↩
Beitragsbild: Natürlich schwarz! (Coffee with Joshua, Unsplash-Lizenz)