Wäre es nicht Zeit für ein neues soziales Medium? Facebook und Twitter haben während der Pandemie den letzten Glanz verloren. Tiktok ist auch nicht mehr taufrisch; und was wir in der letzten Zeit sonst so zu sehen bekommen haben, zum Heulen. Ihr erinnert euch an Gettr (Der Messias ist schon da – aber viele andere fehlen noch)? Dort sind all die Leute zu finden, die bei Twitter rausgeflogen sind. Clubhouse hat sich als Eintagsfliege entpuppt. Und Discord (Heute wird hier Zwietracht gesät) ist zwar nett, aber kein Strassenfeger.
Also, was gäbe es noch? Ich bin im iPhone Store bei einer App namens BeReal gelandet. Die behauptet zwar, «kein weiteres Social Media» (sic) zu sein, hat aber eine offensichtliche soziale Komponente, indem man die App zusammen mit Freunden verwenden soll.
Es gibt die App für Android und das iPhone, und die Idee besteht darin, dass man einmal pro Tag eine Benachrichtigung erhält und dann innert zwei Minuten ein Foto schiessen sollte. Der Zeitpunkt ist offenbar zufällig, sodass man sich nicht vorbereiten kann und auch keine Möglichkeit für grosse Inszenierungen hat. Damit ist die App offensichtlich als Gegenentwurf zu Instagram gedacht, wo manche Leute den ganzen Tag nichts anderes tun, als ihre öffentlichen Augenblicke in Szene zu setzen.
Keine Filter und keine Zeit für Inszenierung
Die Idee ist ganz offensichtlich Authentizität. Es gibt keine Filter und keine Schmuckmechanismen für die Aufnahmen. Die App macht gleichzeitig Fotos über die Front- und Rückkamera. Man sieht eine Szene und gleichzeitig deren Making-of und zeigt so zwar nicht die gesamte Umgebung, aber doch einen beträchtlichen Teil. Natürlich kann man, um verfängliche Situationen zu vermeiden, die Kamera auch abdecken – aber es liegt auf der Hand, dass das dem Grundgedanken widerspricht. Die Idee ist, einen unverfälschten Moment aus dem eigenen Leben zu liefern – gleichgültig, wie banal der auch sein mag.
Wie gut oder schlecht das für meinen Freundeskreis funktioniert, kann ich nicht sagen, da ich in meiner digitalen Hood offenbar der einzige bin, der die App bislang nutzt – mit anderen Worten: Ich habe keine Freunde, mit der ich die App unter Ernstfallbedingungen austesten könnte. Falls ihr Lust habt, sie mit mir auszuprobieren: Ihr findet mich unter bere.al/mrclicko.
Es gibt jedoch die Möglichkeit, unter Discovery öffentliche Fotos anzusehen. Da findet man genau das, was man erwartet: Banale Fotos von Leuten, die mit Freunden abhängen, vor Laptops sitzen oder teils auch wirklich eklige Dinge tun: rosahueta liest ein offenbar medizinisches Fachbuch, indem es ekelhafte Fotos von deformierten Zehennägeln gibt: Zu lang, grünlich verfärbt, blutig eingewachsen und eine augenblickliche Bestätigung, dass man von vielen Leuten nicht so genau wissen möchte, womit die sich beschäftigen. Ich verzichte an dieser Stelle auf einen Screenshot.
Ansonsten: Viele Füsse oder Ansichten von Schulzimmern und Hörsälen, Aufgabenheften, Flughafen-Terminals und Bahnsteigen, dazwischen auch ein trister Hinterhof und das eine oder andere Schlafzimmer – aber nichts, was voyeuristische Neigungen befriedigen würde. Man erfährt jeweils, wer das Foto gemacht hat und aus welcher Weltregion es stammt. Und man kann bei öffentlichen Fotos ein Emoji mit einem kleinen Schnappschuss des eigenen Gesichts zurückliefern. Ich sende der rosahueta ein angewidertes «RealMoji» und bin gespannt, ob sich daraus eine Debatte über die Freuden der Fusspflege entwickelt.
Die App zwingt einem ihren Rhythmus auf
Erster Eindruck von BeReal: Ja, aber nein.
Will heissen: Die Idee, ungekünstelte Eindrücke zu vermitteln, hat etwas für sich. Es leuchtet auch ein, dass es das Zeitlimit für echte Spontaneität braucht. Allerdings verleiht das der App einen hochgradig asozialen Dreh: Sie zwingt uns Nutzern ihren Zeitplan auf und macht es noch schwieriger, das Smartphone einmal in der Schublade verschwinden zu lassen – es könnte ja sein, dass just in dem Augenblick unser Bereal-Foto gefragt ist. Ganz zu schweigen von all den Teenies, die Fotos während Schulstunden machen oder durch eine Prüfung fliegen, weil uneingeweihte Professoren ihre Fotografier-Aktion für Spicken halten.
Es wundert mich nicht, dass die Idee für die App aus Frankreich kommt, weil unsere Nachbarn zwar durchaus einen Hang für Glamour haben, aber sie irgendwann auch wieder auf den Boden der Realität zurückzieht. Bei «Elle» habe ich einen Artikel zu Alexis Barreyat, dem Gründer des Netzwerks, und seiner App gefunden.
«Ich wollte nicht mehr über Plattformen mit kommerziellen oder einflussreichen Logiken gehen, die völlig realitätsfremd sind», sagt Alexis Barreyat. Der junge Mann startete die App «mit eigenen Mitteln und einer Kapitalerhöhung, um Teams einstellen zu können. «Auf Instagram verkaufst du Träume. Auf BeReal ist das nicht das Prinzip», erklärt Paul.
Paul ist ein 16-jähriger Gymnasiast und einer der Nutzer, der im Beitrag vorkommt.
Der Intagram-Gegentrend ist überfällig
Ich werde die App noch etwas weiter nutzen und hoffen, dass ich einige Freundinnen und Freunde finde, damit ich einen authentischen Eindruck dieser ungekünstelten App erhalte. In gewisser Weise halte ich die Idee für bestechend. Aber ich fürchte, dass das ungefilterte Leben halt doch so abgeschmackt ist, dass es auf Dauer gegen Instagram verliert – so hehr Alexis Barreyats Ziel auch sein mag. Aber ich kann mich täuschen. Auf jeden Fall spannend, dass jeder Erfolg auch einen Gegentrend auslöst, und der bei all den Auswüchsen, die wir bei Instagram beobachten, mehr als berechtigt ist.
Beitragsbild: Es könnte passieren, dass einem Bereal justament auf dem WC den Befehl zum Fotografieren gibt (Miriam Alonso, Pexels-Lizenz).