Heute ist der Tag der Ehrlichkeit

Mit Sarahah.com übermittelt man jemandem seine ungeschminkte Meinung, aber vollkommen anonym. Eine gute Idee? Oder doch nur ein Mittel für Mobber und Psychopathen?

Manchmal ist mir nicht zu helfen. Wie neulich, wo ich mit meiner Zeit etwas Sinnvolles hätte anfangen können, stattdessen aber fand, ich müsse mich bei sarahah.com anmelden. Das ist diese Plattform mit der dazugehörenden App (iPhone/iPad, Android), die diesen Sommer einen moderaten Hype erfahren hat. Oder ein Shitstörmchen.

Beim «Spiegel» hiess es: Suche Komplimente, riskiere Shitstorm. Manche Medien schrieben von der «arabischen App» oder der «umstrittenen arabischen App». Als ob nun hier wieder einmal der Araber unsere Kinder und unsere Kultur versaut. Und als ob es nicht vielmehr unsere Kinder sind, die miteinander einen unterirdischen Umgangston pflegen. Da musste ich mich schon mal etwas aufregen.

Gut durchgezogener Mist kostet ein Pfund die Tüte. (Bild: Stonegate walk – honesty jar, Scott/Flickr.com, CC BY-SA 2.0)

Der Clou bei dieser App ist, dass man jemandem seine Meinung anonym zustellt. Die Idee dahinter ist – und das impliziert auch der Name der App, der Ehrlichkeit bedeutet –, dass Leute ehrlicher sind, wenn sie wissen, dass niemand je erfahren wird, wer da so ehrlich war. Denn im richtigen Leben müssen wir bei ungeschminkten Statements mit Einwänden, Berichtigungen, Entgegnungen und Retourkutschen rechnen. Oder mit Wutausbrüchen, aufgekündigter Freundschaft, Racheakten, hintenrum Getratsche oder einer Replik auf körperlicher Ebene. In dem Fall bleibt das aus. Der Angeschossene kann sich nicht wehren, sondern muss die Kritik, ob fair oder fies, still erdulden.

Warum wollen die Leute sich beschimpfen lassen?

Natürlich lässt sich die Prämisse infrage stellen. Viele sind nicht ehrlich, sondern einfach nur gemein. Sie wollen quälen, nicht aufklären. Doch wen das überrascht, der gehört zu den drei Unschuldslämmern weltweit, die noch nie hinter jemandes Rücken getratscht haben. Die viel interessantere Frage ist: Warum tut man sich das an? Warum meldet man sich bei dieser App an, wenn üble Beschimpfungen wahrscheinlich sind?

Wenn ich laienpsychologisieren darf, dann sind es folgende Gründe:

Man erwartet, etwas Sinnvolles zu erfahren. Manche Leute nehmen die Aufforderung über dem Textfeldchen, man solle etwas Konstruktives von sich geben, vielleicht wider Erwarten ernst. Und teilen einem etwas mit, was alle rundherum wissen, aber niemand auszusprechen wagt. So, wie einem nach dem Kantinenbesuch keiner sagt, dass man noch Kohlroulade zwischen den Zähnen hat.

Man hofft vielleicht sogar auf Geständnisse und Lebensbeichten: «Nein, du hast damals die Tür des Kaninchenstalls nicht offen gelassen. Ich habe sie geöffnet, und Mister Pelzfuss auf die Strasse getrieben!» Oder: «Immer bei Vollmond hole ich mir mit deinem Bild einen runter.»

In die Abgründe der Seele anderer blicken

Oder man möchte einen Blick in die Abgründe der Seelen seiner Mitmenschen wagen. Denn egal was deren Motivation sein mag: Verstellen werden sie sich wohl nicht. Unsere Konventionen im Umgang, die Gebote von Höflichkeit und Zurückhaltung, die lehren uns, dass man diese Dinge nicht sagt und jene Dinge nicht tut. Das ist auch gut so, aber es führt dazu, dass wir immer nur die geschönte sozialkompatible Version seiner Mitmenschen sieht. Doch was bleibt, wenn diese Filter wegfallen? Das ist eine Frage, die Leute dazu bringt, Krimis und Thriller zu lesen, und deren Faszination man als neugieriger Mensch intuitiv versteht und der man leicht erliegt.

Mehr Ehrlichkeit geht nicht! (Links: Empfang, rechts: Senden)

Es ist auf jeden Fall ein Spiel mit dem Feuer. Man denkt, man sei Manns (oder Fraus) genug, auch üble Botschaften auszuhalten. Aber man riskiert natürlich, trotzdem tiefer getroffen zu werden, als man es für möglich gehalten hat.

Kann man der Menschheit noch über den Weg trauen?

Und ich habe noch ein anderes Problem. Ich traue der Menschheit so wenig über den Weg, dass ich mir hervorragend ausmalen kann, dass der Urheber der App jede boshafte Meldung protokolliert. Um dann, am ersten April oder zu irgend einem passenden «arabischen» Datum, die Katze aus dem Sack zu lassen:

«Und jetzt erfährst du, wer es war, der dich damals im September 2017 so gedisst hat. Heute werden alle Absender enthüllt, von denen du eine Mitteilung erhalten hast. Denn heute ist der Tag der Ehrlichkeit, die Nacht der Vergebung, die Woche der Reinwaschung oder meinetwegen auch der Moment des Neuanfangs… heute machen wir reinen Tisch und schaffen klare Verhältnisse, weil die Zeit dafür gekommen ist.»

Etwas in der Art. Könnte lustig werden¹.

Fussnoten

1) Ja, ich weiss, das ist unwahrscheinlich, weil man über das Webinterface per [benutzername].sarahah.com Nachrichten auch ohne Anmeldung zustellen kann. Die so abgesetzten Botschaften lassen sich nicht zurückverfolgen… die anderen allerdings…

Kommentar verfassen