Digitale Auferstehung

Digitale Dateien seien für die Ewigkeit, denkt man. Und dann gerät man an eine Textdatei, die von den heutigen Programmversionen weder geöffnet noch importiert wird, obwohl sie höchsten 25 Jahre alt ist.

Jeder wird früher oder später von einem Computerproblem ereilt. Auch Journalisten, die selber über technische Belange schreiben. Ein Kollege von mir, ein alter Hase, hat in seiner Laufbahn jede Version eines grossen Textverarbeitungsprogramms mitgenommen, seit er vom Wangwriter auf einen Personal Computer umgestiegen ist. Irgendwann in den 1980er-Jahren wird das wohl gewesen sein.

Nun zeichnet sich die Computerbranche durch eine bemerkenswerte Geschichtsverweigerung aus. Produkte, die vor ein paar Jahren noch das Grösste waren, werden heute kalten Arsches zum alten Eisen geschmissen. Als Kummerbox-Betreuer fällt mir immer wieder die undankbare Aufgabe zu, Leuten beizubringen, dass es Apple noch nicht einmal im Traum einfallen wird, für ihren iMac G4 noch irgendein Update herauszurücken.

Alte Dokumente? Who gives a crap?

Damit fängt die Tragödie aber erst an. Nicht nur die alten Geräte und Programme sind passé, sondern auch die Dateiformate. Immer mal wieder kommen Leute an, die nach zwanzig Jahren gerne an einem Clarisworks-Dokument weiterarbeiten würden. Mein Kollege hatte nun die Absicht, seine Ende der Achtziger und Anfang der 1990er-Jahre mit Word geschriebenen Artikel einzusehen – zu welchem Zweck auch immer.

Nun zeigt Word 2010 erstaunliches Desinteresse daran, sich auf Dateien seiner Vorfahren einzulassen. In neuen Versionen ist das älteste unterstützte Format das von Word 97–2003. Die Dateien von Word for Windows (1989), Winword 2, Word 95 und Co., sind de facto unzugänglich. Die einen mögen Verständnis haben dafür, dass ein Softwareentwickler den Aufwand scheut, Importer für Formate zu entwickeln, die heute kaum einer mehr benutzt. Als Kunde könnte man sich veräppelt vorkommen – denn ein Grund für Produkttreue dürfte schliesslich sein, dass man sich optimale Kompatibilität verspricht. Beunruhigend ist die digitale Demenz auf jeden Fall.

Im konkreten Fall haben wir versucht, die alten Dokumente über Word 2003 zu öffnen. Diese Version enthält Konverter auch für ältere Dateiversionen. Im vorliegenden Fall hat das nicht geklappt – auch nach der Freischaltung der alten Formate gemäss Anleitung nicht. Warum das so war, liess sich nicht feststellen. Meine Vermutung war, dass die Dokumente mit einer Mac-Version von Word erstellt worden waren, und sich die Formate zwischen Windows und Mac damals nicht kompatibel waren (heute ist das zum Glück anders).

Der einfache, aber nur halb befriedigende Weg

Was bleibt in so einem Fall? Meine Empfehlung war, die Datei über die Option Text aus beliebiger Datei wiederherstellen zu laden. Sie steht im Öffnen-Dialog bei Dateityp zur Verfügung. Bei den vorliegenden Dateien brachte das brauchbare Resultate. Der Text der Artikel erschien zwar ohne Formatierungen, war ansonsten aber intakt – bis auf die falschen Umlaute. Die konnte ich korrigieren, indem ich die Datei als reinen Text (txt) speicherte und sie in Word dann mit der Einstellung Westeuropäisch (Mac) öffnete. Das ist zwar umständlich, aber in dringenden Fällen kommt man immerhin noch an seine Texte heran.

Mit dieser Option kommt man wenigstens an den Text heran – Formatierungen bleiben auf der Strecke.
Da die Dokumente ursprünglich auf dem Mac erstellt worden sind, muss man noch die Codierung «flicken».

Falls das Dialogfeld Dateikonvertierung nicht erscheint, ist es nötig, die Option Dateiformatkonvertierung beim Öffnen bestätigen einschalten. Sie findet sich in den Optionen in der Rubrik Erweitert im Abschnitt Allgemein. Microsoft äussert sich zu diesem Thema im Beitrag Auswählen der Textcodierung beim Öffnen und Speichern von Dateien in der Online-Hilfe zu Word.

Und endlich: die Auferstehung!

Aus reiner Freude am Tüfteln habe ich heute noch einen zweiten Versuch unternommen – und zwar mit Winword 2.0. Die Software habe ich leider nicht bei msdn.microsoft.com gefunden, und bin daher auf vetusware.com ausgewichen. Zu Handen der Anwälte im Hause Microsoft sei gesagt: Es geht hier ausschliesslich drum, mögliche Szenarien zur Datenübernahme auszuloten. Die Software habe ich nach meinem Test wieder gelöscht. Unter Windows 8 wird Winword 2.0a geblockt, aber via VirtualBox lässt sich die Textverarbeitung von 1992 unter Windows 98 betreiben.

Winword 2.0a findet heraus, um was für eine Datei es sich handelt …
… und bringt das Dokument zu guter Letzt auf den Schirm.

Und siehe da: Dieser Weg führt zum Erfolg: Winword 2.0 erkennt den Dateityp als Word for Macintosh 5.0 und führt eine Konvertierung durch. Wenn man dann das Dokument neu als RTF (Rich Text Format) abspeichert, kann man es auch in Word 2013 problemlos öffnen und weiterverwenden.

Fazit: Wer Dokumente auch nach 20 Jahren noch nutzen möchte, verwendet besser keine proprietären Formate, sondern möglichst breit abgestützte Standards. RTF ist im Textbereich nach wie vor eine gute Wahl. Und übrigens:

PageMaker 6.5 von 1996 läuft astrein auch unter Windows 8. Ganz unmöglich wäre das mit der Rückwärtskompatibilität also nicht.

Hello, old friend …

2 Kommentare zu «Digitale Auferstehung»

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