Diese Website ist ein Gedicht

Darum ist das Web so toll: Es gibt Websites, die einen begeistern, selbst wenn man mit dem dort abgehandelten Thema nichts anfangen kann.

Ich sags gleich, wie es ist: Gedichte sind nicht mein Ding. Lyrik ist mir zu anstrengend. Und wenn meine Texte sich hinten reimen müssten, dann wäre ich heute Gärtner. Oder Buchhalter.

Nichtsdestotrotz geht es in diesem Beitrag heute um Gedichte. Und um die erstaunliche Gegebenheit, dass es interessante Websites zu langweiligen Themen gibt. Ja, ich habe eine Website gefunden, die mir überaus gut gefällt, obwohl es dort nichts anderes als Gedichte zu finden gibt.

Die Website heisst lyrikline.org. Es gibt sie schon seit ewig – nämlich genauso lange wie diese Website hier, die seit 1999 das Web bereichert. Sie wurde, wie man bei Wikipedia erfährt, vom Haus für Poesie Berlin ins Leben gerufen. Sie sei ein «kulturelles Brückenprojekt» – was bedeutet, dass sie Grenzen und Sprachbarrieren überwindet und für jedermann zugänglich ist.

Die Beschreibung leuchtet ein: Es gibt die Website selbst in neun Sprachen, und man findet Gedichte in, falls ich richtig gezählt habe, 87 Sprachen, darunter auch Jiddisch, Isländisch oder Rätoromanisch. Man kann viele der Gedichte in Übersetzungen abrufen. Und man muss sie nicht selbst lesen, wenn man nicht will. Man kann sie sich auch anhören, denn sie werden von den Autoren rezitiert, wenn man auf den Play-Knopf drückt.

Schnörkellos und funktional

Und eben: Was auch Lyrikverächter wie mich begeistert, ist die Gestaltung der Website. Sie ist schnörkellos und funktional, und sie erschliesst die Inhalte auf eine unkomplizierte und funktionale Weise.

Websites wie diese machen das Web so liebenswert.

Es gibt die drei Hauptmenüs Autoren, Gedichte und Neu. Zu den Autoren gibt es die Unterrubrik A-Z, nach Sprachen und nach Länder. So findet man zum Beispiel sofort ein Gedicht von Franz Hohler (Sprachlicher Rückstand), das man sich auch in einer russischen Übersetzung zu Gemüt führen kann (Противоречие речи).

Die Gedichte wiederum sind nach diversen Kriterien organisiert. Natürlich nach Sprachen und nach Übersetzung, aber auch nach Genres. Hier findet man seltsame Dinge wie die visuelle Poesie, mit der ich grad gar nichts anfangen kann. Das schmälert den Spass am Schmökern und Stöbern jedoch gar nicht – im Gegenteil, denn es gibt auch Kategorien wie die Lyrik für Kinder, Gedichte mit Klängen und Sounds, translinguale Werke oder vielversprechende Angebote wie die erotische Poesie.

Letterische Dekomposition! (?)

Die weitere Klassifizierung der Gedichte erfolgt nach Formen und Begriffe – sodass ich vielleicht irgendwann doch noch begreife, was eine Ode ist. Oder ein Sonett. Und nach den Themen. Sie sind in die vier Hauptkategorien Gesellschaft, Leben & Beziehungen, Kultur & Wissenschaften und Natur gegliedert. Und schliesslich kann man sich den Gedichten auch anhand der Rhythmischen Muster  annähern – vom Parlando bis zur lettristischen Dekomposition.

Hat man sich für eine Kategorie entschieden, lässt die sich wiederum einschränken: Nach Sprachen, Übersetzungen, Übersetzer, Länder oder den biografischen Koordinaten: Darunter fallen Geburts- und Todesjahr, Geburts-, Wohn- und Todesort, die man wiederum nach Kontinent, Land und Ort eingrenzen darf.

Gedichte zur Liebe, die von Frauen geschrieben wurden, die zwischen 1970 und 1975 geboren wurden? Voilà, das trifft auf sechs aus den insgesamt 13’172 Gedichten zu. Zum Beispiel auf The mathematician von Jemma Borg.

Es gibt auch das Zufallsgedicht und natürlich eine Suchfunktion. Letztere hat allerdings noch Verbesserungspotenzial: Sie findet nämlich nicht nur Text in den Gedichten, sondern auch in den beschreibenden Texten. So dachte ich schon, ein hübsches Gedicht in Griechisch über meinen Wohnort Winterthur gefunden zu haben (ΡΕΦΡΑΙΝ von Jazra Khaleed). Doch dann stellt sich heraus, dass der Treffer von der Beschreibung herrührt, in der steht, dass Khaleed auch Filme dreht und die an den Kurzfilmtagen Winterthur zu sehen waren.

Das macht sogar Spass!

Doch trotz dieses Mankos ist eines unverkennbar: Ich habe Spass, kreuz und quer durch diesen Katalog zu blättern. Es gibt viele begleitende Informationen: Biografische Angaben zu den Dichtern, Videos von Lesungen, Preise und Links.

Für mich ein Vorzeige-Projekt und ein Beispiel dafür, warum ich das Web so liebe: Weil es Informationen auf eine Weise erschliessbar macht, wie es mit anderen Medien – egal, ob als Buch, Film oder Tondokument – nicht möglich ist.

Ach ja, und bevor ihr darauf hinweist: Ja, ich habe tatsächlich einmal Germanistik studiert. Aber man wird mir wohl hier nicht solche Jugendsünden vorhalten wollen, oder?

Beitragsbild: Ich hätte erwartet, dass Gedichte von Hand geschrieben werden. Aber eine mechanische Schreibmaschine ist noch knapp akzeptabel (Suzy Hazelwood, Pexels-Lizenz).

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