Wie das mit MP3 passieren konnte

«How Music Got Free» von Stephen Witt ist ein hervorragendes Sachbuch, das verständlich macht, wie Napster und eine Handvoll Musikpiraten das Geschäftsmodell der Musikbranche in die Grundfesten erschüttern konnten.

Diese Rubrik hier dreht sich meistens um fiktionale Nerdliteratur. Doch heute ist ein Sachtitel fällig. Nämlich How Music Got Free von Stephen Witt; auch in einer deutschsprachigen Übersetzung erhältlich.

Das eigentliche Problem der Musikindustrie war das Verschwinden des Albumus. (Bild: -macjasp/Flickr.com)

Das Buch erzählt die MP3-Revolution nach: Es beginnt mit der Entwicklung des psychoakustischen Formats am Fraunhofer-Institut in Erlangen, wo Karlheinz Brandenburg mit einigen Mitstreitern die Algorithmen entwickelte und Bernhard Grill mit Zehntausenden von immer wieder angehörten und optimierten Samples das Verfahren verbesserten. Es wird erklärt, wie das Format beim Standardisierungsverfahren durch die Moving Picture Experts Group den Kürzeren zog, weil die Erlanger Forscher anders als Konkurrent Philips nichts vom Lobbying in eigener Sache verstanden.

Historisches…

Von diesem Punkt ausgehend erzählt der Autor, wie es zu den massenhaften Verbreitung von nicht lizenzierten MP3-Dateien über Newsgroups und später auch über Tauschbörsen wie Napster und Torrent-Sites wie Oink’s Pink Palace kam und wie der einflussreichste Plattenboss der Welt, Doug Morris mit Repression und Gerichtsverfahren gegen Tauschbörsennutzer reagierte und schliesslich mit der Videoplattform Vevo doch einen Fuss in die digitale Welt bekam.

Stephen Witt, der das englische Hörbuch auch selbst liest, lieferte mir diverse wirklich interessante Erkenntnisse. So war mir beispielsweise überhaupt nicht bewusst, dass ein Grossteil der unlizenziert erhältlichen MP3-Dateien von ganz wenigen Leuten in Umlauf gebracht worden sind. Er porträtiert Bennie Lydell Glover, der als Mitarbeiter des Polygram-CD-Presswerks in Kings Mountain, North Carolina, Tausende von CDs noch vor der Veröffentlichung aus der Fabrik geschmuggelt und sie als Mitglied des Tauschrings Compress ’Da Audio (CDA) der Welt zur Verfügung gestellt hatte. Eine Kurzfassung dieser Geschichte ist übrigens unter dem Titel The Man Who Broke the Music Business im «New Yorker» erschienen.

… und Erhellendes

Man erfährt, dass Steve Jobs ein iTunes-Music-Label plante. Es hätte, anders als das bisher üblich war (und noch ist), Musiker nicht mit hohen Vorschüssen zu ihren Plattendeals motiviert, sondern durch hohe Tantiemen.

Stephen Witt belegt, was wir schon immer wussten: Nämlich, dass die Musikindustrie das Internet komplett verschlafen hat – und denn auch teuer für diese Fehleinschätzung bezahlen musste. In einer Studie Mitte der 1990er-Jahre wurden die Risiken für die Industrie untersucht. Diese hat viele negative Szenarien gewälzt, doch das Internet mit keinem Wort erwähnt:

So when Morris read the deal prospectus and its warnings of a coming wave of CD bootlegging, he was not especially worried. It was something to watch out for, certainly, but unlikely to materially affect his bottom line. Morris believed consumers would continue to buy legitimate discs, just as long as he kept cranking out hits. Plus, postmerger, the company’s margins on those discs would be better than ever. Polygram owned several large-scale CD manufacturing plants throughout America, including the big one, the Kings Mountain plants where All Eyez on Me had been pressed. Once Universal folded these plants into its own manufacturing and distribution network, overhead costs were projected to fall by nearly $300 million a year. (As ever, there were no plans to pass these savings along to the consumer.)

The deal prospectus listed other risks as well. There was the risk that consumer’s taste would change–the risk that, in some apocalyptic scenario, people would stop buying so many Hanson albums. There was the risk that Universal would be outbid for artists–the risk that the wouldn’t sign Cash Money next time, or that Bon Jovi would defect to Sony. There was the risk of economic recession–a risk that the industry had historically weathered well, but one over which it had no control. And, more dangerous still, there was “key man” risk–the risk that Doug Morris might suffer a stroke or be hit by a falling piece of space debris.

But what turned out to be the biggest risk wasn’t mentioned at all. When the deal prospectus was made available to the public in November 1998, the buzz surrounding the Internet had become impossible to ignore. But somehow the executives of Seagram did not think the technology was worth analyzing at all.

Man erfährt, dass auch die harte Linie gegen unbedarfte Napster-Nutzer nicht von ungefähr kam, sondern auf der langjährigen Tradition im Umgang mit Bootleggern vor allem im asiatischen Raum beruhte – und auf einer Studie vom ehemaligen US-Notenbankchef Alan Greenspan, der 1982 den Kampf gegen das Home-Taping mit einer Untersuchung munitionierte und zum Schluss kam, dass man die Kassetten-Schwarzkopierer die ganze Härte des Gesetzes würde spüren lassen müssen.

Es wäre auch sonst passiert

Schliesslich ein interessanter Punkt, den wir so doch auch schon immer vermutet haben: Die Musikindustrie hätte auch ohne Piracy und Pirate Bay ein Problem bekommen. Der Grund dafür liegt darin, dass das Album aus der Mode kam und die Leute immer weniger gewillt waren, wegen zwei, drei guter Songs eine ganze Platte zu kaufen. Klar, dank der legalen Online-Einkaufsmöglichkeiten wie dem iTunes Store konnte man nun einzelne Songs erwerben, wo man früher die Langspielplatte nehmen musste. Das nennt Witt «forced bundling»:

But now, the last step was broken. You no longer had to buy the whole album. Even if you held on to some atavistic notion of paying for your music, you could just buy the MP3 single on iTunes. For years the industry had been selling songs that even their creators acknowledged were not very good. Now they were paying the price. In economic terms, album sales were an example of “forced bundling”–after being bamboozled by Total Request Live, the consumer now wanted to hear “First,” but she had to buy all of Speak to get it. Who needed 12 Lindsay Lohan songs? One was more than enough.
There had been a time, of course, when the musicians had embraced the album. The had written full-length suites that spanned four platters of vinyl. Those had been the Ertegun days, which Morris fondly remembered, when Led Zeppelin would write 12 songs spanning two full-length LPs as part of a holistic artistic vision. You sat at home next to your turntable with your headphones and your spliff and you spent two hours listening to the entirety of Physical Graffiti in sequence. But album-oriented rock had died in the ’80s, the victim of MTV and the Walkman, and for the last twenty years music had been a hits-first business.

Rappers in particular were totally driven by hits. Their singles were dynamite, but their albums were packed with filler: lazy rhymes over half-finished beats, throwaway songs from unheralded apprentices, unintelligible skits.

Diese Entwicklung hat, mehr noch als das Geschäft der Schwarzkopierer, der Musikindustrie das Geschäft verdorben. Mit dem Verschwinden des Albums brachen die Einnahmen weg: «Es gibt nichts Heiliges an 74 Minuten Musik», schreibt Witt. «Das war keine künstlerische Entscheidung. Es war bloss das Speicherlimit der CD.»

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