Hold my beer, während ich diese App benutze

Besserer Mensch, weil weniger Alkohol? Wie die Less-App uns bei diesem Unterfangen helfen will.

Apps sind normalerweise Werkzeuge. So, wie eine Schaufel, ein Hammer oder eine Bohrmaschine, unterstützen sie unsere Arbeit und eine konkrete Tätigkeit. Oder sieh versehen uns mit intellektueller Nahrung. Diesem Bereich ordne ich Netflix, Spotify, Audible, Blendle oder Readly ein. Und natürlich auch iBooks, Podcatcher, Internetradioempfänger, RSS-Reader und anverwandte Produkte.

Es gibt indes auch Apps, die einen höheren Anspruch haben, als dem Anwender bloss zuzudienen. Die würde ich nicht mit einem Hilfsmittel vergleichen, sondern mit einem Lehrer, Trainer, Lifecoach oder mit Mike Shiva. Solche Apps drehen gewissermassen den Spiess um. Da stecken wir nicht in der Rolle des Anwenders. Im Gegenteil, wir sind das Objekt der Bemühungen – das Pièce de résistance, an dem sich die App abmüht.

Den Lebenswandel positiv beeinflussen

Das ist völlig harmlos bei Apps, die es darauf abgesehen haben, zu unserer Bildung und geistigen Fitness beizutragen. Beispiele dafür sind die Apps zur Horizonterweiterung, die ich seinerzeit hier vorgestellt habe. Oder die Apps gegen den körperlichen Zerfall aus diesem Beitrag. Dann gibt es natürlich auch Apps für das körperliche Wohlbefinden, zum Beispiel Sport-Apps (hier oder hier) oder Apps für Rezepte und das Kochen.

Etwas schwieriger wird es bei Apps, die unseren Lebenswandel positiv beeinflussen möchten. Ich habe schon Mike Shiva erwähnt: Es gibt nämlich Apps, die uns allen Ernstes die Zukunft weissagen und uns dabei helfen wollen, die richtigen Lebensentscheidungen zu treffen. Das ist leider Mumpitz.

Aber gibt es Apps, die uns – wenigstens ein bisschen – zu besseren Menschen machen? Ich habe vor längerer Zeit die App Streaks vorgestellt (in diesem Video). Die will uns dabei helfen, gute Vorsätze umzusetzen: Zahnseide zu benutzen, mit dem Hund spazieren zu gehen, Frau und Kinder nicht zu verprügeln und fleissig die Griechisch-Vokabeln zu büffeln.

Ziele setzen und mittels Gamification erreichen

Hier ist nun Ehrlichkeit gefragt – wenn es darum geht, auch jedes Bier zu erfassen.

Sie gibt uns die Gelegenheit, uns Ziele zu setzen und belohnt uns mit den klassischen Mitteln der Gamification, wenn wir diese Ziele erreichen. Und es gibt Apps, die uns dabei helfen wollen, unsere Mitte zu finden. Die habe ich im Beitrag Das Smartphone als Yogameister vorgestellt.

Die App Less fürs iPhone, die ich neulich im App Store entdeckt habe, gehört auch in die Kategorie der Apps, die mit der Ambition antreten, unseren Lebenswandel positiv zu beeinflussen. Less hat das Ziel, uns nicht gerade zu Blaukreuzlern zu machen, aber uns dabei zu helfen, unsere Trinkgewohnheiten zu kontrollieren. Die App gibt beim ersten Start ihr Mission Statement bekannt:

Less wurde entwickelt, um den gelegentlichen Alkoholkonsum zu verfolgen und einzuschränken, nicht um eine Alkoholabhängigkeit zu bewältigen.

Hier wählt man eines von sieben Zielen: Weniger trinken, mehr alkohlfreie Tage, den Körper entlasten, bewusster trinken, die Gewohnheiten zurücksetzen oder besser verstehen – oder mit sozialen Situationen umgehen.

Man muss bei dieser Gelegenheit auch angeben, wie viele Drinks man sich pro Woche gönnt (0-4, 5-9, 10-14, 15-19, 20+). Und dann muss man sich seltsamerweise sogleich mit seiner Apple-ID anmelden – ohne, dass die App dafür eine Begründung ausspucken würde. Das ist schon mal reichlich seltsam: Gerade jenen Menschen, die eher am oberen Limit segeln, würde Anonymität an dieser Stelle wahrscheinlich helfen.

Ein dicker Disclaimer am Anfang – verständlich, aber in Kombination mit dem Login auch reichlich seltsam.

Falls das Login tatsächlich bloss zu Backup-Zwecken angelegt wird und die Daten komplett verschlüsselt gespeichert sind, müsste man das auf alle Fälle entsprechend vermelden.

Ich verfahre an dieser Stelle nach dem guten fragwürdigen alten  «Ich habe nichts zu verbergen»-Prinzip und melde mich an. Immerhin erhält man dank Sign in with Apple die Möglichkeit, dem Betreiber seine E-Mail-Adresse vorzuenthalten.

In der App geht es darum, die Trinkgewohnheiten zu erfassen. Man sieht, wie viel Alkohol man konsumiert, wie viele Kalorien man auf diese Weise zu sich nimmt, und wie die Entwicklung über die Tage, Wochen, Monate und Jahre ist. Es gibt auch eine Angabe, wie viel Geld man fürs Saufen für den Alkoholkonsum ausgibt. Standardmässig setzt die App einen Drink mit fünf Franken gleich, was mir völlig nutzlos erscheint: Fast nirgendwo ist die preisliche Bandbreite so gross wie bei alkoholischen Getränken.

Wie sich die Trinkgewohnheiten während des Lockdowns entwickeln

Im Bereich Tips finden sich weniger Tipps als vielmehr Presseartikel zum Thema, beispielsweise, wie sich die Trinkgewohnheiten während des Lockdowns entwickelt haben.

Die Auswertung – hier noch nicht sehr aussagekräftig.

Die App verspricht, nicht wertend sein zu wollen. Das soll wohl heissen, dass auf dem Display kein riesiger Zeigefinger nach oben schiesst, falls man sich ein bisschen gehen lässt. Aber kann eine solche App überhaupt nicht wertend sein? Denn sie hat die Erwartung, einen zu einem moderaten Trinkverhalten anzuleiten – und ihr effektivstes Mittel ist aufzuzeigen, wenn es nicht gut läuft. Ja, natürlich kann ein solcher Hinweis tadelnd oder nüchtern (pun intended) ausfallen – aber die Wertung kann man ihm nicht absprechen: Wenn die Verfehlung des Ziels völlig egal ist, kann man es auch gleich bleiben lassen.

Das wöchentliche Limit, das es einzuhalten gilt.

Fazit: Ich bin kein Suchtexperte und kann nicht beurteilen, ob eine solche App etwas bringt oder nicht.

Tatsache ist, dass das Mittel der Gamification durchaus effektiv sein kann. Ich bewege mich jedenfalls deutlich mehr, seit ich Schrittzähler und Sportuhren benutze. Ich kann mir daher vorstellen, dass unbestechliche Statistiken und klare Zielvorgaben die Selbstkontrolle unterstützen; zumindest bei den Selbstdisziplinierten.

Wenn jemand auf dem Weg zum Alkoholiker ist, dann hat die App mutmasslich keine Chance – und deswegen erscheint beim ersten Start dieser ausdrückliche Disclaimer. Ich frage mich allerdings, ob der nicht trotzdem ein Fehler ist – und ob es nicht klüger wäre, Nutzer mit einem expliziten Suchtverhalten nicht abzuschrecken. Wieso sie nicht zur Nutzung ermutigen und während des Gebrauchs darauf hinweisen, dass eine Abhängigkeit nicht mit einer App in den Griff zu bekommen ist.

Das Thema ist wichtig und richtig

Und ja, ich habe eingangs einen ironischen Ton angeschlagen und mit dem Vorwurf des Moralismus kokettiert, den man häufig von gewissen Leuten zu hören bekommt, wenn es ums sog. Gutmenschentum™ geht. Der wird gerne verwendet, um ein Anliegen ins Lächerliche zu ziehen, damit man erst gar nicht darüber diskutieren muss.

Das will ich auf keinen Fall tun. Das Thema ist wichtig und richtig, aber ich wollte es nicht bierernst angehen, weil ich so keine Lust habe, den Beitrag zu schreiben und ihr ihn wahrscheinlich nicht lesen mögt. Aber wie gesagt: Die App hat ihre Berechtigung, aber der angeblich nicht vorhandene moralische Zeigefinger ist mir trotzdem zu hoch gereckt.

Zwei abschliessende Bemerkungen:

Erstens habe ich während dem Schreiben dieses Blogposts entdeckt, dass es auch eine App namens «Drink less Schweiz» der Fachstellen Sucht des Kantons  Zürich gibt. Die ist fürs iPhone und für Android erhältlich.

Es geht auch mit einer normalen App zum Loggen der Trinkmenge

Zweitens kann man seinen Alkohol auch bestens mit der Waterminder-App im Auge behalten. Ich habe die seinerzeit zwar unter dem Titel Wasser statt Wein predigen (und trinken) vorgestellt. Man kann aber auch Bier, Wein und andere alkoholische Getränke eintragen. Es gibt keine so schöne Auswertungen wie bei Less. Aber dafür spüre ich keine derbe moralische Verpflichtung, wenn ich mein Bier oder drei Gläser Wein eintrage – und dass ich schon mit einem Fuss in der Forel-Klinik stehe.

Beitragsbild: Sonnenaufgangs- und Untergangsvision; nach Herbert Grönemeyer (Edward Eyer, Pexels-Lizenz).

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