«Häufigkeitslimit überschritten»

Neun Twitter-Alternativen im Augen­schein: Wer von den He­raus­for­de­rern wie Threads, Masto­don, Bluesky, Post, Hive, T2 oder Truth­social hat die grösste Chance, Elon Musk die Butter vom Brot zu nehmen?

An dieser Stelle muss ich meine Verblüffung darüber kundtun, dass kaum eine Woche vergeht, in der nicht ein neuer Kurznachrichtendienst auf der Bildfläche erscheint: Wieder einer, der es sich zutraut, Twitter zu beerben – was allerdings auch nicht überrascht, wo Twitter dieses Wochenende den Eindruck macht, in letzten Zügen zu liegen.

Für den Fall, dass bald endgültig Schluss ist – und damit wir die Übersicht nicht verlieren –, habe ich eine Liste zusammengetragen. Sortiert habe ich sie nach den Erfolgsaussichten:

1) «P92» Threads¹ von Meta

Über dieses Projekt wissen wir nicht sehr viel. Was wir über dieses Projekt wissen, habe ich in meinem ersten Augenschein zusammengetragen. Es könnte sich um einen ernsthaften Angriff von Mark Zuckerberg auf Elon Musk handeln, oder aber um eine Nebelpetarde. Vielleicht wird Meta das Activitypub-Protokoll verwenden, das auch Mastodon antreibt – eventuell aber auch nicht.

Gesichert ist allerdings, dass sowohl Mark Zuckerberg als auch Elon Musk die Gelegenheit nutzen, einen lächerlichen PR-Zirkus über einen angeblichen «Cage Fight» abzuhalten. Mag sein, dass die Amis das lustig finden. Ich finde es bescheuertes Macho-Gehabe, und wenn es wider Erwarten tatsächlich dazu kommt, dann hoffe ich, dass beide hinterher weinend im Käfig sitzen und von ihren Mamas getröstet werden müssen. Jedenfalls wäre es der Beweis dafür, dass die sozialen Medien nicht die Zivilisation befördern, sondern sosehr an die niederen Instinkte appellieren, dass sogar die Chefs Opfer ihrer eigenen Gehirnwäsche werden.

Zurück zu Threads: Falls Meta die Sache ernst meint, würde ich diesem Projekt gute Chancen geben. Erstens natürlich, weil ein Social-Media-Koloss es mit dem nötigen Schwung vorantreiben könnte. Zweitens aber auch, weil viele zwar riesige Vorbehalte gegenüber Meta haben, im Vergleich zum erratischen Twitter-Chef der gute Herr Zuckerberg fast schon vernünftig erscheint.

Es bleibt allerdings die Frage, ob die Wettbewerbsbehörden zusehen würden, wenn Threads erfolgreich wäre. Ich fände es sinnvoll, in dem Fall eine Abspaltung zu verlangen.

2) Mastodon

Die quadratische Bildübersicht – die es auch für Mastodon-Accounts gibt.

Zugegeben: Die Euphorie des letzten Jahres (Run auf Mastodon, Mastodon hebt ab) ist abgeflaut. So bestechend die Idee des dezentralen Netzwerks ist, auf längere Frist machen sich deren Nachteile negativ bemerkbar: Das grösste Manko liegt darin, dass es keine Suche über alle Instanzen hinweg gibt. Das schmälert den Nutzen massiv; anders als Twitter funktioniert Mastodon nicht wirklich gut als Rechercheinstrument und als Seismograf für Trends und Stimmungen.

Trotzdem setze ich Mastodon auf Platz zwei: Die Chancen sind intakt, dass die Mankos überwunden werden können, zum Beispiel mit einem zentralen Index.

Und vergessen wir nicht: Mastodon ist teil des Fediversums, in dem es noch weitere spannende Dienste gibt, etwa Pixelfed (Instagram, aber ohne einen einzigen Influencer).

3) Bluesky Social

Bluesky Social (blueskyweb.xyz) ist zumindest teilweise auf dem Mist von Twitter-Mitbegründer Jack Dorsey gewachsen. Das könnte man als Reue interpretieren, weil er mit dem Verkauf an Elon Musk den Niedergang seines ehemaligen Schützlings mit ermöglicht hat. Dorsey hat sich zu dieser Frage differenziert geäussert: Sein grösstes Bedauern sei, dass Twitter überhaupt ein Unternehmen geworden sei, schrieb er in einem Tweet und führte das wie folgt aus:

A protocol. Def can’t be owned by a state, or company. Becomes clearer every day.

Was die Übersetzung angeht: Mit «def» meint er vermutlich «definitively», sodass es er sagt, dass ein Protokoll «definitiv nicht im Besitz eines Staates oder eines Unternehmens sein» könne: «Das wird jeden Tag klarer.»

Diese Erkenntnis hatte Dorsey schon vor dem Verkauf an Musk; Bluesky wurde 2021 gegründet. Auf Wikipedia wird die Funktionsweise so beschrieben:

Seit 2023 betreibt Bluesky sein eigenes Netzwerk namens Bluesky Social, einen zentralisierten Dienst, der auf proprietärer Software für seine Server und Client-Apps läuft, während ein Teil der Protokollimplementierung unter MIT-Lizenz veröffentlicht wurde. Blockchain-Technologie kommt nicht zum Einsatz. Posts werden von häufigen Nutzern als «Skeets» bezeichnet. Das ist angeblich ein Portmanteau aus «sky» und «tweet», aber auch ein gängiger Slangausdruck für Ejakulation. CEO Jay Graber hat die Nutzer gebeten, sie nicht so zu nennen.

Verständlich.

Der Platz drei hier ist natürlich das Verdienst von Jack Dorsey: Er hat meines Erachtens die richtigen Schlüsse gezogen, und er versteht etwas von sozialen Medien. Darum wäre er der Mann, so ein Projekt zum Fliegen zu bringen. Aber klar: Ich verteile hier Vorschusslorbeeren. Ein ausführlicher Test – zu lesen im Beitrag Der Himmel dürfte noch etwas blauer sein zeigt –, dass diese Vorschusslorbeeren teilweise gerechtfertigt sind. Bluesky Social macht bei den Details einen durchdachten Eindruck. Aber ob es reicht, um Twitter gefährlich zu werden, ist dennoch mehr als fraglich. Und es stellt sich die Frage nach der Interoperabilität zum Fediversum. Die steht bislang nicht zur Debatte – wäre aber wohl ein entscheidendes Erfolgskriterium.

4) Tumblr

Tumblr lebt zwar von kurzen Beiträgen, doch es gibt keine Längenbeschränkung – auch dieser Blogpost hat in Gänze Platz.

Tumblr ist der älteste Vertreter in dieser Liste. Es gibt ihn fast so lange wie Twitter. Er hat zwar nie in der ganz grossen Liga mitgespielt, war aber lange Zeit eine interessante Anlaufstelle für Leute, die Twitter als zu konfliktlastig und Facebook als zu seicht empfunden haben. Leider hat Yahoo nach der Übernahme des Dienstes alles vermasselt. Das könnte sich ändern, habe ich Ende des letzten Jahres in Aussicht gestellt. Heute steht Word­press-Betreiberin Automattic und der Chef dort, Matt Mullenweg, hat neue Ideen für den etwas heruntergekommenen Kurzblogging-Dienst. Er trägt sich mit dem Gedanken, ihn ins Fediversum einzugliedern – also die Sphäre, in der auch Mastodon zu Hause ist. Das halte ich für vielversprechend.

Allerdings ist bislang nichts von diesen Ideen zu sehen – und allzu lange sollte Mullenweg wohl nicht zuwarten, denn irgendwann schliesst sich dieses Gelegenheitsfenster auch wieder.

5) Post.news

Ich bin überzeugt, dass ein Konkurrent, der Twitter einfach nur kopiert, keine Chance auf Erfolg hat. Wer die Nutzerinnen und Nutzer in Massen dazu bewegen will, die Front zu wechseln, muss sich sich zumindest ein exklusives Feature einfallen lassen. Das ist bei Post (post.news) der Fall: Dieser Konkurrent lockt mit Geld: Diese Plattform, die von Netscape-Urgestein Marc Andreessen mitfinanziert wird, will sich als «Zeitung der Zukunft» positionieren. Der Clou: Es gibt eine eingebaute Trinkgeldfunktion, mit der man den Urhebern eines interessanten Beitrags eine Anerkennung in monetärer Form zukommen lässt.

Ein gewisses Potenzial ist vorhanden. Bislang sehe ich aber nicht, dass Post in den letzten Monaten merklich an Fahrt gewonnen hätte. Immerhin; ein paar interessante Figuren gibt es dort, namentlich Fernseh-Urgestein und ehemaliger CBS-Anchorman Dan Rather (@danrather). PS: Mich findet ihr hier als @mrclicko.

«Das Urteil des Obersten Gerichtshofs, das rassistisch motivierte Massnahmen bei der Zulassung zu Hochschulen weitgehend verbietet, beruht auf einer grundlegenden Verzerrung der amerikanischen Realität», schreibt Dan Rather.

6) Hive Social

Einer der bekannten Nutzer auf Hive.social ist Autor John Scalzi.

Diesen Dienst (hivesocial.app) habe ich 2021 für den «Tagi» beschrieben. Es gibt die bislang nur als mobile App (fürs iPhone und Android), was ich für einen entscheidenden Nachteil halte: Ein soziales Medium muss auch über den Desktop-Computer erreichbar sein, damit wir es auch während unserer Arbeitszeit als Ablenkung zur Verfügung haben.

Hive Social hat meines Erachtens – wenn überhaupt – als Plattform bestimmte Gesellschaftsgruppen eine Chance. Es zielt u.a. auf die LGBTQ+-Community ab und macht klar, dass hier mehr Schutz gewährt sei als auf Twitter, wo Anfeindungen an der Tagesordnung sind.

Ich bin aber skeptisch, dass Plattformen, die nur einen Teil der Gesellschaft ansprechen, auf Dauer eine Chance haben. Das gilt für die Rechtsaussen-Vertreter Truthsocial und Gettr, aber es gilt auch für links positionierte Netzwerke. Wir erinnern uns vielleicht an Ello 2014 oder Vero 2018, die beide nicht von der Facebook-Müdigkeit profitieren konnten.

7) und 8) Truthsocial.com und Gettr.com

Apropos Rechtsaussen: Ich erlaube mir, die beiden Plattformen Truthsocial.com und Gettr.com gleich in einem Atemzug abzuhandeln. Sie sind als Sammelbecken für Leute konzipiert worden, die bei Twitter und anderen Plattformen gesperrt worden sind, weil sie gegen die Richtlinien verstossen und unter «Meinungsfreiheit» verstehen, andere Leute zu diskreditieren und zu verunglimpfen.

Das sehe ich nicht als nachhaltiges Geschäftsmodell an. Ein ausführlicher Augenschein hat denn auch ergeben, dass bei Gettr gähnende Langeweile herrscht.

Was Truthsocial angeht, war diese Plattform lange Zeit nur für US-Amerikaner zugänglich. Seit einiger Zeit steht sie auch unsereins offen. Ich habe mich als @socialjusticekrieger angemeldet. Bislang konnte ich mich nicht zu einem ausführlichen Test durchringen. Vielleicht ändert sich das noch. Jedenfalls zeigt ein kurzer Augenschein, dass hier absolut nichts los ist – wenn man vom grandiosen Account SVP Schweizerische Volkspartei absieht.

Nutzer @socialjusticekrieger tritt an, die Welt von der orangen Gefahr zu befreien.

9) Pebble

Bei T2 wird man als Neumitglied von den Gründern noch per Handschlag begrüsst.

Pebble.is (ursprünglich «T2»)² ist der Dienst, mit dem ich bislang nicht viel anfangen kann. Er bezeichnet sich als «the new public square», ist aber einfach nur eine Kopie von Twitter. Das reicht meines Erachtens nicht, um die Aufmerksamkeit dauerhaft aufrechtzuerhalten: Die Leute müssen ja nicht nur zum Umsteigen bewegt werden, sondern auch dazu, sich dauerhaft zu engagieren.

Dafür braucht es unbedingt auch ein Alleinstellungsmerkmal, sonst bleiben die meisten Leute (ich inklusive) beim Original. Ein solches Zückerchen könnte sein, dass Nutzerinnen und Nutzer, die unter Twitter verifiziert waren, ihr Häkchen zu Pebble hinüberwechseln können. Dazu ist dieses Formular hier auszufüllen.

Hinter Pebble stehen Gabor Cselle, der vorher bei Google gearbeitet hat, Michael Greer, ehemals Discord und Sarah Oh, die Twitter bezüglich Menschenrechte beraten hat und, so würde ich vermuten, zu denen gehört, auf deren Dienste Elon Musk nach seiner Machtübernahme verzichten wollte.

Mich findet ihr als @mrclicko auf Pebble. Falls ihr ebenfalls dort seid, meldet euch. Falls nicht – auch nicht so schlimm. Vorerst verpasst ihr nichts, und wie meine Platzierung am Ende der Liste andeutet, denke ich nicht, dass sich das so schnell ändern wird.

Fazit

Natürlich, die Idee ist naheliegend, jetzt die grosse Chance zu wittern, auf Twitters Kosten zur gewichtigen Nummer im Geschäft der sozialen Medien zu werden: Auch ich bin frustriert über Twitter und etwas ernüchtert von Mastodon.

Trotzdem sehe ich bis jetzt keinen Kronfavoriten. Meine Prognose daher: Twitter wird uns, den Alternativen zum Trotz, erhalten bleiben. Solange nicht die Server zusammenbrechen, weil niemand mehr da ist, der sie administrieren kann und vorausgesetzt, dass Elon Musk nicht noch weitere, schlimmere Dummheiten begeht, werden alle hier aufgeführten Kandidaten ein Schattendasein führen – zumindest, wenn nicht einer ein revolutionäres neues Feature einführt, das eine Neu-Evaluation erforderlich macht.

Das weitere Kandidatenfeld

Bleibt die Frage, ob dieses Kandidatenfeld überhaupt vollständig ist.

Nein, natürlich nicht. Ich selbst habe noch Trust Café auf dem Zettel. Das ist ein soziales Netzwerk von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales, das er allerdings eher als Alternative zu Reddit positioniert. Das schaue ich mir derzeit an. Ihr findet mich dort als Matthias Schüssler und ich freue mich aufs Vernetzen.

Zwei weitere Kandidaten habe ich bei «Fast Company» (What I learned by trying 6 Twitter alternatives) entdeckt. Der Erste ist wie Bluesky mit Jack Dorsey verbandelt. Er verwendet ein Protokoll namens Nostr und ist in Gestalt der Damus-App fürs iPhone erhältlich. Ich werde mir auch diese App bei Gelegenheit ansehen und eine Einschätzung nachliefern, falls sich das als notwendig erweisen sollte.

«Fast Company» führt auch substack.com/notes ins Feld, das am ehesten mit Tumblr vergleichbar scheint. Auch das setze ich mal auf meine Themenliste.

Fussnoten

1) Ich habe den Code-Namen hier nach Veröffentlichung der App durch den offiziellen Namen ersetzt und in Bezug auf meine Rezension (Ein erster Augenschein von Threads) eine kleine Anpassung meines Fazits vorgenommen.

2) In diesem Text habe ich Pebble zu einem Zeitpunkt beschrieben, als das soziale Netzwerk noch keinen definitiven Namen hatte und unter dem Code-Namen «T2» (t2.social) lief. Ich habe den (anscheind schwierigen Prozess der Namensfindung in meiner Kritik wie folgt thematisiert:

«T2» ist ein junges Pflänzchen im Garten der Twitter-Alternativen. An diesem Dienst ist noch fast gar nichts definitiv; noch nicht einmal der Name. In den FAQ heisst es, «T2 sei nur der erste Name, der uns einfiel, als wir anfingen. Wir arbeiten an einem neuen Namen, aber er ist noch nicht fertig».

Klar; die Namensfindung ist schwierig. Aber sie ist auch zentral, weil er Identität stiftet. «T2» dürfte eine Kurzformel für «Twitter, zweiter Versuch» sein – und das ist keine ausreichende Grundlage.

Beitragsbild: Adobe Firefly zum Prompt «Five small birds with grey, red, green and yellow feathers attack a big blue bird, which tries to fly away».

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