Endlich habe ich meine Einladung für bsky.app (auch fürs iPhone und Android) bekommen und damit die Gelegenheit, mir einen eigenen Eindruck des Twitter-Konkurrenten zu verschaffen, bei dem Twitter-Gründer Jack Dorsey im Verwaltungsrat sitzt. Bei meiner grossen Rangliste der Herausforderer habe ich ihn wegen der prominenten Rückendeckung hinter Threads von Meta und Mastodon auf Platz drei gesetzt. Aber natürlich muss auch die Anwendung selbst die Erwartungen erfüllen.
Tut sie das? Ein erster Augenschein zeigt eine frappante Ähnlichkeit mit dem Vorbild: Das vertikale Menü links, der Feed in der Mitte und das Suchfeld rechts: Das sieht genauso aus wie bei Twitter und bei vielen der anderen besprochenen Dienste. Natürlich hat sich diese Oberfläche bewährt und sie ist so vertraut, dass wir uns sogleich zurechtfinden. Aber natürlich: Was einen Dienst ausmacht, sind nicht die Gemeinsamkeiten zu seinesgleichen, sondern die Unterschiede.
Ruhe vor den Glarners, Köppels und Thürings
Diesbezüglich fällt auf, dass die Zeitleiste anders als organisiert ist als bei Twitter. Die Standard-Ansicht ist Following. Sie enthält die Posts der Leute, denen wir folgen und nicht irgendwelche Beiträge, die algorithmischem Hokuspokus zusammengestellt worden sind. So muss es sein. Denn die Für dich-Ansicht von Twitter enthält anscheinend nur noch Zeug, das allein zum Zweck der Provokation und Polarisation in die Welt gesetzt wurde – also Tweets von Andreas Glarner, Roger Köppel, Joël Thüring und ihresgleichen, deren Beiträge von – naja, sagen wir es diplomatisch – geringem Wert für die öffentliche Debatte sind.
Es gibt auch bei Bluesky die Möglichkeit, sich im Gesamtangebot umzusehen. Dafür wenden wir uns der Rubrik My Feeds zu. Hier erschliessen wir uns den «blauen Himmel» nicht nach Personen, sondern nach Inhalten und Themen. Diese Feeds sind eine gute Einstiegshilfe für Leute, die noch ganz frisch bei Bluesky sind und noch niemandem folgen. Denn da es bislang keine Möglichkeit gibt, das ganze Adressbuch hochzuladen, um Freundinnen und Freunde anhand ihrer E-Mail-Adresse zu finden, ist die Following-Rubrik anfänglich noch komplett leer.
Wie die Listen bei Twitter – nur besser
Bei My Feeds tut sich aber schon zu Beginn etwas:
Eine gute Anlaufstelle ist Discover. In diesem Feed finden wir «trending content», also Posts mit vielen Antworten, Likes und Reposts. Es gibt aber noch viele weitere Feeds zu bestimmten Themen: Zu Wissenschaft, Kunst, der Spiele-Entwicklung oder Astronomie, beispielsweise. Es finden sich auch diverse sogenannter Cluster, also Tweets aus bestimmten Regionen. Wir finden einen koreanischen, japanischen, türkischen und ukrainischen Cluster. Einen deutschen oder Schweizer Cluster gibt es bislang anscheinend nicht, aber hier immerhin als deutsch getaggte Posts.
In den Einstellungen unter My Feeds haben wir die Möglichkeit, solche Kanäle mit einem virtuellen Pin zu versehen. Sie erscheinen dann als separate Rubrik auf der Startseite (Home) und können dort separat geöffnet werden. Das erinnert natürlich stark an die Listen bei Twitter, die sich ebenfalls anheften und dann direkt über die Startseite nutzen lassen
Wie die Feeds zu einer Art virtuellen Zeitung werden
Es gibt aber zwei entscheidende Unterschiede: Erstens erscheinen unter My Feeds die prominentesten Posts aus jedem Feed untereinander, und zwar in der Reihenfolge, die wir selbst festgelegt haben. Das könnte im Alltag nützlich sein, indem es uns erlaubt, uns einen Überblick über unsere Lieblingsthemen zu verschaffen – wie in einer Art virtueller Zeitung.
Zweitens gibt es unter My Feeds auch einige Meta-Kanäle. Sie erschliessen unsere eigenen Posts oder die unserer Freunde anhand bestimmter Kriterien:
- Unter Likes finden wir unsere favorisierten Posts.
- Bei Mentions erscheinen Erwähnungen unseres Accounts und unserer Beiträge.
- Popular with friends ist eine Sammlung der Posts, die unserer Freunde mögen.
- Mutual enthält, falls ich das richtig verstanden habe, die Posts von den Leuten, die bei Twitter früher Freunde hiessen – solche, denen wir folgen und die uns zurückfolgen.
Dass wir Kanäle nach Gutdünken auswählen und auf der Startseite anheften können, macht Bluesky gegenüber Twitter deutlich flexibler – und ohne, dass wir gleich zu einer spezialisierten Anwendung wie Tweetdeck greifen müssten.
Wirkungsvolle Instrumente für die Moderation und Inhalts-Filterung
Noch zwei Dinge, die mir ausgezeichnet gefallen:
Erstens gibt es den Menüeintrag Moderation. Er führt zu vier Optionen, mit denen wir unliebsame Inhalte aus unserem Feed fernhalten. Wir verwalten die blockierten und die stumm geschalteten Accounts. Wir können auch Stummschalt-Listen einrichten und denen die passenden Accounts zuordnen – auf diese Weise lässt sich hinterher nachvollziehen, warum die Stummschaltung erfolgte. Unter Content Filtering gibt es Kategorien wie explizit sexuelle Bilder, brutale oder blutige Inhalte, Spam, Nazi-Symbole und Ähnliches, sowie Impersonationen, für die wir jeweils drei Optionen zur Auswahl haben, nämlich Ausblenden, Warnen und Zeigen.
Zweitens können wir in den Einstellungen unter den Home Feed Preferences angeben, was zu sehen sein soll und was nicht. Konkret: Sollen Antworten auf Posts, Reposts und zitierte Posts erscheine, ja oder nein? Und falls wir Antworten anzeigen lassen wollen, können wir angeben, wie viele Likes die mindestens haben müssen, damit sie auftauchen.
Gute Ansätze allein reichen nicht
Damit sind wir beim Fazit: Bluesky macht bei diesen Details einen durchdachten Eindruck. Mein Eindruck ist, dass hier viele Erkenntnisse aus dem praktischen Twitter-Alltag eingeflossen sind – wobei ich leider nicht weiss, ob Jack Dorsey die explizit eingebracht hat oder die Bluesky-Entwickler selbst die richtigen Schlüsse gezogen haben.
Es bleibt aber das Problem, dass sich diese Feinheiten erst beim genauen Hinsehen erschliessen. Darum habe ich meine Zweifel, dass das reicht, um Twitter ernsthaft das Wasser abzugraben. Das sehe ich an mir selbst: Zwar ist mein Frust nochmals gewachsen, seit Elon Musk die völlig hirnrissige Idee durchgezogen hat, Twitter in X umzubenennen. Erstens wird damit auch auf der atmosphärischen Ebene spürbar, dass der heutige Mikroblogging-Dienst nichts mehr gemeinsam hat mit dem sozialen Netzwerk, das ich vor 15 Jahren kennen- und lieben gelernt habe.
Nichts mehr – ausser dass dort halt die Leute sind, die – genau wie ich – sich schwertun, ihr Konto dichtzumachen und einen radikalen Neuanfang zu wagen. Darum hat bedauerlicherweise auch Bluesky einen schweren Stand. Frust allein reicht nicht, dass die Leute wechseln. Es braucht einen positiven Anreiz in Form eines Features, das einmalig und so toll ist, dass niemand darauf verzichten möchte.
Das habe ich nicht ausmachen können. Aber vielleicht kommt das noch: Denn Bluesky ist weniger eine Website als ein Protokoll. Der Dienst ist für eine dezentrale Nutzung gedacht, genauso, wie wir das von Mastodon bzw. dem Fediversum her kennen. Das ist für mich ein so starkes Argument, dass das tatsächlich ausreichend Kraft haben könnte, um Twitter und auch die anderen klassischen sozialen Netzwerke wie Facebook und Instagram in die Defensive zu drängen.
Die Gretchenfrage: Wie hältst du es mit dem Fediversum?
Die Dezentralisierung ist allerdings auch gleichzeitig ein Wettbewerbsnachteil, weil sie das Netzwerk vergleichsweise träge macht und wichtige Funktionen wie die globale Suche erschwert. Wenn Bluesky Erfolg haben will, muss es entweder diese Nachteile ausbügeln oder aber irgendeine Form der Interoperabilität mit dem Fediversum realisieren, damit das offene Netz seine Kräfte bündeln kann.
Persönlich bevorzuge ich die Interoperabilität: Ich fände es toll, wenn ich mit meiner inzwischen ordentlichen Fediversums-Community über die elegante und zweckmässige Oberfläche von Bluesky kommunizieren könnte. Aber danach schaut es nicht aus. Im Interview, das «The Verge» mit Bluesky-Chef geführt hat, bringt Jay Graber zum Ausdruck, dass Bluesky das bessere Fediversum sein will.
Wir haben ein Protokoll entwickelt, das drei wichtige Dinge enthält, die unserer Meinung nach im Mastodon-Ökosystem fehlen: Übertragbarkeit von Konten, globale Auffindbarkeit und zusammensetzbare, anpassbare Kuration und Moderation.
Das sieht leider nach einer Verzettelung aus: Die eine Welt hat die grössere Nutzerschaft, die andere Welt das (vermutlich) überlegene Protokoll. Das ist eine unglückliche Ausgangslage, wie auch «Techcrunch» konstatiert:
Es wird immer deutlicher, dass es zumindest eine kleine Synergie zwischen Bluesky und Mastodon geben muss, wenn es in einer Post-Twitter-Welt anständig vorwärts gehen soll.
Ob eine Art Brückenschlag technisch überhaupt möglich wäre, ist schwierig zu beurteilen. «Techcrunch» hält es jedenfalls nicht für ausgeschlossen:
Die Tatsache, dass Bluesky und Mastodon unterschiedliche Protokolle verwenden, bedeutet nicht unbedingt, dass alles verloren ist. Mit ihren Open-Source-Grundlagen ist es technisch möglich, eine Art Brücke zwischen den beiden Protokollen zu bauen. Die Software-Entwicklergemeinschaft arbeitet derzeit genau daran.
Das bessere Mastodon?
Ich fürchte, dass das ein schlimmes Gebastel werden würde. Es bräuchte eine wie auch immer geartete Annäherung. Dürfen wir darauf hoffen? Jay Graber sagt im «The Verge»-Interview:
Wir sehen uns nicht als Konkurrenten von Mastodon. Wir begrüssen Ansätze zur Dezentralisierung sozialer Plattformen und verfolgen einfach einen anderen, eigenen Ansatz. Unser Fokus liegt im Moment darauf, unseren Ansatz auszubauen und zu beweisen, dass er im grossen Massstab funktioniert.
Also warten wir ab, ob dieser Beweis gelingt – und hoffen wir, dass die lachenden Dritten nicht Elon Musk mit seiner vermurksten X-App und Mark Zuckerberg mit seinem bislang mehr als enttäuschenden Instagram Threads sein werden!
PS: Ich freue mich aufs Vernetzen. Ihr findet mich als @matthiasschuessler.ch bei Bluesky.
Beitragsbild: Eines ist klar – besser als Windows XP ist Bluesky allemal (Joshua Hoehne, Unsplash-Lizenz).