Spotify hat sein Alleinstellungsmerkmal verloren

Mutiert der Schwedische Streaming­dienst von einem sympa­thi­schen Start-up zu einem Arsch­loch-Unter­neh­men? Es gibt ein neues Indiz für diese These.

Geht es nur mir so – oder hat Spotify in den letzten Monaten nachgelassen? Meine Frage bezieht sich auf die Radio-Funktion. Die ist bekanntlich dazu da, dass wir einen Titel oder einen Künstler auswählen und dann ad-hoc eine Wiedergabeliste mit weiteren, dazu passenden Songs anhören können.

Das war früher eine tolle Methode, um neue Musik zu entdecken. Ausgehend von einem Song, der zur Stimmung passt, lieferte der Streamingdienst Bands und Titel, von denen ich oft noch nie gehört hatte. Die waren nicht immer das Gelbe vom Ei – aber die Trouvaillen waren häufig genug, dass ich das Radio gerne und oft genutzt habe.

Ich schalte das Spotify-Radio noch immer ein; mit immer weniger Begeisterung: Denn statt neuer Songs liefert es vor allem Altbekanntes. Typischerweise jene Lieder, die wir vor ein paar Tagen einer Wiedergabeliste hinzugefügt oder ein paar Mal abgespielt haben. Das Radio ist von einem Entdecker- zu einem Rezyklier-Feature verkommen.

Wenige Beweise – aber drei Indizien

Wenigstens ein Stück, das ich noch nicht kenne, wäre cool.

Das Problem an dieser Stelle ist, dass ich diese Veränderung kaum belegen kann. Denn Algorithmen sind eine Black Box, von der wir nicht wissen, wie sie funktioniert. Wir können nur von aussen beobachten. Und für einen belastbaren Befund hätten wir vor einem, zwei oder drei Jahren eine Versuchsreihe starten müssen. Das heisst, wir hätten ein paar Fälle dokumentieren und aufschreiben müssen, welche Songs das Spotify-Radio zu Vorlage x liefert. Das habe ich leider nicht getan.

Dennoch gibt es Indizien für die Vermutung. Drei an der Zahl habe ich gefunden:

Erstens die Wiedergabeliste Lieblingssongs

Dort tauchen alle Titel auf, die wir früher mit einem Herzchen versehen haben und heute über das Plus-Symbol markieren. Dort habe ich früher fleissig neue Songs hinzugefügt. Seit einigen Monaten, eher Jahren ist das selten geworden. Ich entdecke kaum mehr neue Musik, die mir gefällt.

Ich habe Musik nicht nur übers Künstlerradio, sondern auch über die automatische Wiedergabeliste Dein Mix der Woche entdeckt. Auch der ist deutlich schlechter geworden. Das kann damit zusammenhängen, dass Spotify den Kasperli macht¹ – aber auch da ist mein Eindruck, dass die Auswahl zunehmend langweilig und mainstreaming geprägt wird.

Zweitens Reddit

fancypantsman23 schrieb schon vor einem Jahr genau das, was ich hier kritisiere:

Meiner Meinung nach waren das Spotify-Radio und die Daily Mixes schon immer eine Art Echokammer – akzeptiert. Aber in letzter Zeit hat sich das zu einem echten Problem entwickelt: Wenn ich ein Album abspiele und mir hinterher das Albumradio anhöre, war ich mir ziemlich sicher, dass ich mindestens einen neuen Song entdecken würde, der mir gefällt. Zumindest waren einige unbekannte Songs dabei. Dasselbe gilt für die Künstlerradios. Jetzt besteht jedes Radio buchstäblich aus Liedern, die ich bereits mag, zu meiner Bibliothek hinzugefügt habe oder die ich regelmässig höre.

Drittens das «richtige» Radio

Die exakt gleiche Entwicklung beim UKW-Radio stattgefunden. Sie hat dazu geführt, dass ich 2010 gefordert habe, DRS3 bzw. heute SRF3 abzuschalten. Ich habe mich übers Formatradio aufgeregt und die Musikrotation als die Ursünde des Radios bezeichnet.

Dass nun Spotify die gleiche Wandlung durchmacht, ist nichts als logisch. Wir müssen davon ausgehen, dass jegliche Marktforschung zeigt, dass die meisten Leute keine neue Musik entdecken wollen, sondern lieber das hören, was sie schon kennen. Ich erinnere an das lustige Experiment, das 2015 bewiesen hat, dass es sich bei (fast) jedem Country-Song im Radio eigentlich um das gleiche Lied handelt.

Das ist auch früher schon passiert

Es liegt auf der Hand, dass auch bei Spotify diese Erkenntnis greift und dazu führt, dass der Algorithmus entsprechend angepasst wird: Weniger Neues, mehr Bekanntes – zumindest ab dem Moment, wo Spotify ausreichend viele Lieblingssongs kennt, um eine Heavy Rotation à la Formatradio einzurichten.

Nur blöd: Ich finde das zum Kotzen. Meine Zuneigung zu Spotify rührt daher, dass mir der Streamingdienst viele neue Bands und Künstlerinnen erschlossen hat. Das scheint nun vorbei.

Zeit für die Kündigung des Abos?

Damit verliert Spotify sein wichtigstes Alleinstellungsmerkmal. Und weil der Streamingdienst sich auch sonst von einem netten Start-up zu einem – Pardon my French –  Arschloch-Unternehmen gewandelt hat², frage ich mich schon, warum ich noch Monat für Monat meinen Abobeitrag überweisen soll.

Fussnoten

1) Ich wäre übrigens sofort gewillt, ein Familienabo für Spotify zu lösen, wenn es in der App eine die Möglichkeit gäbe, mehrere Konten einzurichten und zwischen denen zu wechseln. Diese Möglichkeit ist unabdingbar für das Kinderkonto. Sonst braucht es ein separates Smartphone oder Tablet fürs Kind, und das kommt für mich in Kasperli-Alter nicht infrage.

2) Einige Belege für die Arschlochigkeit von Spotify:

Beitragsbild: Ich bin die Frau, die es gerade nicht so cool findet (Wesley Tingey, Unsplash-Lizenz).

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