Die sozialen Medien am Wendepunkt

Der Zerfall von Twitter ist das sicht­barste Zeichen einer Ent­wick­lung, die viel tiefer geht und die in einem Be­deu­tungs­ver­lust der so­zia­len Me­dien münden wird.

Heute habe ich das Vergnügen, als Referent am 71. #smgzh teilzunehmen. Das Kürzel steht für Social-Media-Gipfel und ist eine Veranstaltung der Kommunikationsagentur Bernet Relations, mit der ich schon seit vielen Jahren gelegentlich zu tun habe.

Das Thema des Gipfels ist ein Aktuelles: nämlich die Querelen um X, den Kurznachrichtendienst formerly known as Twitter. Ich vertrete die These, dass wir eine Wende bei den sozialen Medien erleben, die Elon Musk vorantreibt, an der X aber nicht alleine schuld ist. Damit ich mich, wenn ich es dereinst besser weiss, auch angemessen berichtigen kann, möchte ich diese These hier kurz umreissen.

1) Twitter verliert weiter an Einfluss

Ich gehe davon aus, dass Twitter bzw. X an Einfluss verloren hat und weiter an Einfluss verlieren wird. Das wird einerseits durch Zahlen belegt: Eine Studie von Jan Böhmermann zeigt einen Schwund bei allen Nutzerinnen und Nutzern, ausser bei denjenigen, die zum rechten Bereich zählen. Die Geschäftsführerin Linda Yaccarino musste einen Rückgang bei den täglich aktiven Nutzerinnen und Nutzer vermelden.

Auch die Unternehmen verlieren die Lust, auf Twitter Werbung zu schalten; was nur logisch ist. Auf Twitter präsent zu sein, ist im aktuellen Klima ein Reputationsrisiko.

Schliesslich beobachte ich auch selbst, dass einige aus meiner Bubble abspringen – entweder löschen sie ihr Konto, oder sie sind weniger aktiv. Zwei Fälle von anekdotischer Evidenz: In meiner Serie von Twitterer-Assessments sind genau zwei Folgen erschienen, und beide 2020 vorgestellten Accounts gibt es nicht mehr (@redder66 und @PrettyDamnSwiss).

Ich selbst bin noch bei Twitter, aber meine Lust, mich zu engagieren, ist kleiner geworden.

2) … aber kein einzelner Nachfolger wird Twitter beerben

Trotzdem glaube ich nicht, dass ein einzelner Nachfolger Twitter bzw. X wird beerben können. Der erste Grund dafür liegt darin, dass es diverse potenzielle Nachfolger gibt. Klar, nicht alle werden erfolgreich sein: Pebble, den ich in meiner Liste der aussichtsreichsten Twitter-Nachfolger auf Platz neun gesetzt habe, hat bereits die Segel gestrichen.

Einige sind noch im Rennen, namentlich die derzeit beliebte neue Plattform Bluesky, die auf eine Idee von Jack Dorsey zurückgeht. Auch Threads von Meta und Mastodon bzw. das Fediversum sind im Rennen.

Schliesslich gibt es auch kleinere Plattformen, die für Nutzerinnen und Nutzer mit speziellen Interessen attraktiv sein könnten:

Wir sollten damit rechnen, dass es in Zukunft mehr Nischen geben wird: Mehr Plattformen, die sich ausdifferenzieren und – wenn wir Glück haben – wie im Fediversum dennoch miteinander verbunden sind. Ich glaube aber eher, dass die Idee von Kumbaya und Eintracht im Netz gestorben ist. Denn jeder neue Disput, sei es über Corona, über den Ukrainekrieg oder zuletzt über den Hamas-Terror, hat uns immer das Gleiche gelehrt: Nämlich, dass Streiten nichts bringt.

3) Es gibt eine Social-Media-Müdigkeit bei den Nutzern

Es wird auch Leute geben, die den sozialen Medien insgesamt den Rücken kehren. They left social media for good, schrieb die «Washington Post» im April. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass die rechte Seite des politischen Spektrums sich im derzeitigen Klima wohler fühlt.

Abseits der politischen Einordnung ist mein Eindruck, dass viele Leute einfach keine Lust auf das Gezänk mehr haben.

Ich stelle fest, dass bei mir nach 15 Jahren eine Facebook Fatigue eingesetzt hat: Aus meinem grossen Freundeskreis sind es immer die gleichen, die sich zu Wort melden. Und häufig posten sie die immer gleichen Memes, Fotos nach der der immer gleichen Machart oder «lustige» Postings aus den immer gleichen Gruppen. Es zeigt sich, dass es verflixt schwierig ist, über Jahre hinweg originell, neu und überraschend zu sein.

Die meisten können es nicht. Darum verlieren die sozialen Medien auf Dauer zwangsläufig an Attraktivität. Ich stelle fest, dass ich die App oft nur noch aus reiner Gewohnheit öffne, und nicht, weil ich noch grosse Neugierde verspüren würde. Die Frage, ob uns etwas fehlen würde, wenn Facebook weg wäre, hat sich während des Ausfalls im Oktober 2021 eindrücklich beantwortet: Facebook ist down – und alle geniessen die Ruhe.

Auch die Inszenierung und der Vormarsch der Influencer fördert die «Fatigue». Ein Indikator dafür ist das Netzwerk Bereal, das letztes Jahr für Aufmerksamkeit gesorgt hat, weil es durch spontan angeforderte Fotos einen Gegentrend zu den Instagram-Inszenierungen gesetzt hat (Echter wirds nicht, Wie Instagram, bloss ohne die Selbstinszenierung).

4) Auch die Betreiber sind ihre sozialen Medien leid

Den Betreibern scheint dieser Trend bewusst zu sein und mein Eindruck ist, dass auch bei denen der Eindruck vorherrscht, das zugrunde liegende Geschäftsmodell sei ausgereizt.

Mein Indiz für diese These ist, dass Meta seit Jahren nichts dafür tut, dass die Stimmung bei Facebook und Instagram besser wird. Das wäre möglich, indem der Algorithmus originelle oder konstruktive Beiträge belohnen würde. Frances Haugen 2021 hat gravierende Missstände angeprangert, aber ein Umdenken hat nicht stattgefunden, wie die jüngsten Entwicklungen zeigen (Profitgier über Kindeswohl: Dutzende US-Gliedstaaten klagen gegen Facebook und Instagram).

Stattdessen träumt Mark Zuckerberg vom Metaversum und schaut sich Erfolgsrezept von Tiktok ab, bei dem ein Algorithmus dafür sorgt, dass sich Nutzerinnen und Nutzer nicht langweilen, selbst wenn deren Freunde nichts Interessantes posten.

Hatte Meta jemals eine Vision? Ich glaube schon, dass Mark Zuckerberg anfänglich ernsthaft daran glaubte, mit seinem Produkt Menschen zusammenbringen zu können. Doch er hat schon früh gemerkt, dass dieser Aspekt der Rentabilität nicht förderlich ist. Seitdem ist Instagram eine Influencer-Hölle und Facebook der Ort, wo man sich mit Querdenkern zankt.

5) Nur eine Zwischenstation zur X-App

Ein Indiz, dass Meta die Zukunft nicht im Sozialen sieht, sind die neuen Whatsapp-Kanäle: Sie sind ein Riesenerfolg, und sie haben kaum mehr eine interaktive Komponente. Nutzerinnen und Nutzer können einen Beitrag mit einem Emoji kennzeichnen und vielleicht an Umfragen teilnehmen – mehr nicht.

Das ist attraktiv für Unternehmen und Organisationen, die es leid sind, sich auf Twitter und Facebook mit Trolls, renitenten Nutzern und komplett Durchgeknallten herumzuschlagen.

Und ich sehe bei Whatsapp durch diese Neuerung und auch durch die kommende Bezahlfunktion erste Anflüge einer «Everything-App» oder «Super-App» – also einem Produkt nach dem Vorbild von Wechat, das nicht nur die Kommunikation abdeckt, sondern auch für Geschäfte und Dienstleistungen aller Art zuständig ist. Elon Musk strebt mit Twitter eine solche App an, wie er durch die Umbenennung in X demonstriert hat. Aber ich bin sicher, dass auch Mark Zuckerberg ähnliche Ideen hat.

Fazit

Es ist offensichtlich, dass den Zweck erfüllt, was Geld einbringt. Wenn das bedeutet, dass die soziale Komponente in den Hintergrund tritt, dann ist mein Eindruck, dass Mark Zuckerberg dem «social» in «social media» keine Träne nachweint. Dann funktioniert Facebook künftig halt nach dem Tiktok-Prinzip und in Whatsapp dominieren die Einweg-Kanäle – Hauptsache, die Kasse stimmt.

Der soziale Aspekt und der Community-Gedanke waren nützlich, um die Plattformen gross und mächtig werden zu lassen. Doch wir sind an einem Punkt angelangt, wo sie kein weiteres Wachstum mehr bringen und zunehmend hinderlich werden. Aber werden die Nutzerscharen mit Abos und Algorithmus-Boosts monetarisiert. Und wenn nichts von der egalitären, idealistischen Ursprungsidee übrigbleibt, ist das weder für Mark Zuckerberg noch für Elon Musk ein Problem.

Beitragsbild: It’s dead, Elon (Microsoft Image Creator zum Prompt «a dead Twitter-like bird lying on the ground, above a blue sky with a small white cloud, in comic style»).

4 Kommentare zu «Die sozialen Medien am Wendepunkt»

  1. Bei Philippe Wampfler habe ich kürzlich eine gute Einordnung gelesen: Das „social“ ist verloren gegangen. Zuerst standen Beiträge von Freunden (und allenfalls deren Freunden) im Vordergrund. Dann wurden reaktionsstarke „Aufreger“-Beiträge priorisiert und Influencer konnten entstehen. Jetzt entscheidet ein Algorithmus, was wir sehen. Man kann ein neues Instagram-Profil anlegen, durch die Reels scrollen und ohne jemandem zu folgen, wird man nach wenigen Minuten schon fast nur noch „passende“ Beiträge sehen.

    Cory Doctorow hat dazu den Begriff „Enshittification“ erfunden. Facebook & Co. waren am Anfang nützlich. Je stärker ihre Marktmacht wurde und je schwieriger, sie zu verlassen, desto mehr „Sch**ss*“ haben sie in den Feeds gezeigt: bezahlte Beiträge, reaktionsstarke Fake News. Hätte Facebook 2007 so ausgesehen, wie es heute aussieht, wäre kaum jemand länger als ein paar Minuten geblieben.

    Erstaunlich finde ich deshalb, dass grosse Teile der Twitter-Gemeinde ihr Heil bei Bluesky suchen. Wieder einer Website mit Trackern und kommerziellem Hintergrund. Ich sehe nicht, wie das auf Dauer besser sein soll als Twitter.

    Aus meiner Sicht ist eine nicht kommerzielle Plattform wie das Fediverse die einzige Möglichkeit für Social Media mit „social“. Denn nur da gibt es kein Interesse, die Feeds durch fremde Beiträge „anzureichern“. Man sieht die Beiträge seiner „Freunde“ und das, was sie retweeten bzw. boosten und nichts weiter. Wenn man nach und nach Leuten folgt, deren geboostete Beiträge einem gefallen haben, hat man in überschaubarer Zeit einen guten Feed. Es gibt häufig Vorbehalte, weil das Fediverse unzensiert ist. Aber ich habe in meinem Feed noch keine Nazi-Inhalte gesehen. Die gibt es zwar, aber sie werden nicht einfach mitgeliefert, wenn man nicht danach sucht.

  2. Spannende Einblicke in die schöne neue Welt. Die Müdigkeit macht sich schon seit einiger Zeit breit. Let’s wait and see was noch kommt. Aus diesem Grund habe ich auch eine eigene „Plattform“ mit dem Namen DentalTV gegründet … https://dentaltv.app

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