Ein soziales Medium, wo man sich Schlagzeilen um die Ohren haut

Artifact ist eine News-App, die mittels KI eine personalisierte Nachrichten-Auswahl trifft. Gleichzeitig ist sie auch eine Online-Gemeinschaft, um über die Aktualität und über die grossen Themen zu diskutieren.

Kevin Systrom und Mike Krieger, die beiden Gründer von Instagram, haben eine neue App verbrochen. Sie heisst Artifact und hat – wie könnte es 2023 auch anders sein? – etwas mit KI zu tun. Sie stellt mittels künstlicher Intelligenz einen personalisierten Newsfeed zusammen.

Artifact ist fürs iPhone und für Android erhältlich. Wenn wir die App zum ersten Mal starten, müssen wir unsere Vorlieben kundtun: Aus einer Übersicht von Themen wie US-Politik, International, Tech, Gaming, Internetkultur und Gesundheit wählen wir mindestens fünf Optionen aus. In einem zweiten Schritt dürfen wir Medien auswählen, die priorisiert werden. Zur Auswahl stehen die grossen US-Medienhäuser und Newsplattformen wie Techcrunch.

Auf den ersten Blick ein ganz normaler News-Aggregator

Die automatisch ausgewählten News in der «For You»-Ansicht.

Dann gelangen wir auch schon zu den News: In den einzelnen Rubriken scrollen wir vertikal das Angebot durch. Die Rubriken selbst stehen horizontal nebeneinander und werden über die Leiste unter dem Suchfeld durchgeblättert. In dieser Leiste findet sich am Anfang die Rubrik For You mit der personalisierten Selektion.

Dahinter erscheinen einige der bevorzugten Rubriken; aber nicht eins zu eins so, wie wir sie ausgewählt haben. Der Bereich Tech ist auf mehrere Rubriken wie Tech Cos (?), Startups, AI, Gadgets und Apps aufgeteilt. Andere Bereiche wie die Internetkultur scheinen zu fehlen. Über das Menü am rechten Ende der Liste dürfen wir steuern, welche Rubriken angezeigt werden und in welcher Reihenfolge. Wir dürfen hier auch jederzeit Themen entfernen und hinzufügen.

Unter diesen Rubriken gibt es auch den Eintrag Discuss, wo die Beiträge erscheinen, die von vielen Artifact-Nutzerninnen und Nutzern gelesen und mit Kommentaren versehen wurden.

Womit wir bei den interaktiven Funktionen wären: Es gibt die Möglichkeit, Beiträge in einem entrümpelten Lesemodus zu öffnen, mit einem Herzchen oder Kommentar zu versehen, über ein Lesezeichen für später vorzumerken oder über den Teilen-Knopf weiterzureichen.

Clickbaiting abstrafen

So weit, so unspektakulär: Nun gibt es an dieser Stelle aber tatsächlich einige Funktionen, die meine Neugierde geweckt haben:

  • KI-Zusammenfassungen: Über das Sternchen rechts oben erstellen wir mittels künstlicher Intelligenz eine Zusammenfassung, die uns den Inhalt in zwei, drei Sätzen erklärt.
  • Vorlesen: Das Wiedergabeknöpfchen liest uns den Text mit einer recht angenehmen synthetischen Stimme vor.
  • Bewertungen: Über das Menü rechts oben können wir den Beitrag mit einem Daumen nach unten versehen, was mutmasslich einen Einfluss darauf hat, was die App uns künftig unter For you präsentieren wird. Wir können überzogene Titel mit dem Befehl Mark as Clickbait Title brandmarken und den Artikel auch melden. Schliesslich gibt es hier die Möglichkeit, den dunklen Modus einzuschalten, die Schriftgrösse zu wählen und mehr über den Autor oder die Autorin des Artikels in Erfahrung zu bringen. Und wir dürfen den Autorinnen und Autoren auch folgen.

Damit sind wir bei der Besonderheit von Artifact, die diese App von anderen News-Apps unterscheidet. Artifact will nämlich ein soziales Netz für News werden.

Eigene Links posten

Die Ansicht mit den Posts der Artifact-User.

Das zeigt sich daran, dass wir nicht nur Autoren, sondern auch anderen Nutzerinnen folgen und der Community Artikel mit einer eigenen Bewertung unterbreiten können. Wenn uns ein Artikel dafür interessant genug erscheint, tippen wir in der Menüleiste unten auf den Post-Knopf. Nebst den Artikeln aus dem Angebot der App dürfen wir auch eigene Links einspeisen, sodass sich an dieser Stelle auch Blogposts und Stücke aus kleineren Medien einbringen lassen, die von Haus aus nicht vertreten sind.

Wenn wir etwas posten, tun wir das über ein Bearbeitungsfenster, in dem wir den Titel umschreiben, ein Beschreibung oder eine eigene Einschätzung abgeben, weitere Bilder, Tags oder Tags hinzufügen und uns per KI eine Zusammenfassung generieren lassen, die wir wiederum editieren dürfen.

Die Idee ist anhand eines Newsbeitrags eine spezifische Diskussion zu entfachen. Diese aus der Community geposteten Beiträge sind auf der Hauptseite über das Link-Symbol in der Fussleiste zugänglich – in dieser Menüleiste gibt es ausserdem den Bereich Headlines mit den wichtigsten Artikeln, die (vermutlich) nicht personalisiert ist und ein Knopf zum eigenen Account.

Über «Post» unterbreiten wir Artikel und eigene Links der Community.

Um unser Engagement mit Artifact zu befeuern, gibt es auch einen Gamification-Aspekt, bei dem wir mittels News-Konsum und Community-Aktivitäten Punkte sammeln und aufsteigen können.

Ein Umfeld für gesittete Diskussionen?

Also, das Fazit: Was halten wir von Artifact?

Die Personalisierung von News ist weder neu noch revolutionär. News-Aggregatoren wie Microsoft Start, Upday oder das sehr in die Jahre geratene Google News haben ebenfalls das Ziel, uns anhand einiger Vorlieben einen personalisierten Mix zu liefern, der dann anhand von den Artikeln, die wir auswählen, mehr oder minder ausgeklügelt verfeinert wird. Diese Methode erspart es uns, selbst unsere Lieblingsmedien in einem RSS-Reader zu kuratieren.

Es gibt ein grundsätzliches Problem mit dieser Methode: Wir liefern uns dem Algorithmus aus, ohne beurteilen zu können, wie gut oder schlecht er unsere Vorlieben trifft. Damit der Algorithmus überhaupt etwas personalisieren kann, müssen wir die App erst einmal nutzen – und wie gut oder schlecht die Auswahl ist, lässt sich nur beurteilen, wenn wir uns auf dem herkömmlichen Weg eine Übersicht der Nachrichtenlage verschaffen – aber wenn wir das tun, dann brauchen wir diese Apps nicht mehr.

Anhand von ein paar Vorlieben stellt die App den Newsmix zusammen.

Es bleibt dabei, dass ich den RSS-Ansatz bevorzuge, bei dem ich selbst über meine Quellen bestimme. Und ja, einer KI-Unterstützung wäre ich nicht abgeneigt. Die könnte mir beispielsweise die unzähligen Artikel, die zu einem Thema erscheinen, zusammenfassen und für eine sinnvolle Priorisierung sorgen.

Es könnte was aus Artifact werden

Das Alleinstellungsmerkmal von Artifact ist die Community. Das hat meines Erachtens Potenzial – denn über News nicht irgendwo auf Twitter oder Facebook zu diskutieren, hat schon was: Hier ist das Umfeld mutmasslich freundlicher, weil sich all die Leute, die nur noch «alternative Medien» konsumieren, sich kaum hierher verirren. Es bleibt aber auch hier das Problem, dass ich es bevorzugen würde, wenn Diskussionen an der Quelle, d.h. beim Originalmedium stattfinden: Dann können sich alle beteiligen und nicht bloss diejenigen, die irgendwo auf den Artikel gestossen sind.

Was mir an Artifact gefällt, sind die Details: Die App passt in der Liste die Überschriften der Artikel an; und zwar, um sie sachlicher zu machen – also als Anti-Clickbaiting-Massnahme. Und die News-Auswahl scheint mir gut; ich entdecke vergleichsweise viele Stücke am Anfang der Liste, die ich auch tatsächlich lesen möchte.

Es bleibt zu kritisieren, dass das News-Angebot auf die USA zentriert ist und es nur Texte in Englisch zu lesen gibt. Ich habe probehalber einer meiner Blogposts veröffentlicht, aber die Resonanz war, sagen wir, verhalten.

Trotzdem werde ich die App weiter nutzen und sehen, ob sie für meine Themensuche, wie erhofft, gute Dienste leistet.

Nachtrag vom Januar 2024

Lang hat sie es nicht gemacht, die Artifact-App: Am 12. Januar 2024 hat der Chef, Kevin Systrom, im Namen des Teams angekündigt, dass der Betrieb der App innert Monatsfrist eingestellt wird: «Wir haben etwas aufgebaut, das einer Kerngruppe von Nutzern gefällt, aber wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die Marktchancen nicht gross genug sind, um weitere Investitionen zu rechtfertigen.»

Beitragsbild: Die ist im Angebot von Artifact natürlich auch vertreten (Grigorii Shcheglov, Unsplash-Lizenz).

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