Von der hohen Kunst, einen Social-Media-Streit zu beenden

Warum sind Dispute auf Face­book, Twitter und Linked­in immer un­be­frie­di­gend, un­ver­söhn­lich und un­er­gie­big? Ich habe mir das über­legt und bin auf fünf Ur­sa­chen ge­stos­sen.

Im Netz einen Streit vom Zaun zu brechen, ist einfach. Es braucht unter Umständen nur ein einziges Wort. Einen solchen Streit zu beenden, ist hingegen schwierig bis unmöglich. Die Diskussion zieht sich hin, verästelt sich, dreht sich im Kreis oder weitet sich auf Nebengebiete aus und wird durch Dritte angefeuert oder erschwert.

Es grenzt an ein Wunder, dass Auseinandersetzungen im Netz nicht ewig andauern. Das tun sie nicht, weil entweder jemand an Altersschwäche stirbt oder aber eines dieser drei Exit-Szenarien eintritt:

  1. Die Eskalation geht so weit, dass einer die anderen oder alle sich gegenseitig blockieren.
  2. Es gelingt einem der Beteiligten, den anderen in die Flucht zu schlagen. Oder es versammeln sich so viele gegen einen, dass der keine Chance mehr hat, auf alle einprasselnden Nachrichten oder Kommentare zu reagieren und entnervt aufgibt.
  3. Man einigt sich auf ein Unentschieden. Das ist selten, aber es kommt vor: Idealerweise dann, wenn ein Sündenbock ins Spiel kommt, auf den sich alle verständigen können. Beliebtes Beispiel: «Die Medien sind schuld.»

Es fällt auf, dass einige Szenarien fehlen. Nämlich diese hier:

  1. Jemand gibt dem anderen recht und anerkennt, dass dessen Position richtig ist.
  2. Die Beteiligten anerkennen, dass die unterschiedlichen Sichtweisen ihre Berechtigung haben und üben sich in Ambiguitätstoleranz. Kurz: man einigt sich darauf, sich nicht einig zu sein («Let’s Agree to Disagree»).
  3. Oder man findet das, was man auf Denglisch den «happy middleground» nennt. Auf Deutsch: Man erreicht einen Kompromiss oder findet einen goldenen Mittelweg.

Ich schliesse nicht aus, dass sich in der Geschichte der sozialen Medien eines dieser drei letzten Szenarien irgendwo ereignet hat. Aber falls ja, hat die Welt nicht davon erfahren – weil wahrscheinlich alle so verdattert waren, dass niemand daran gedacht hat, jemandem davon zu erzählen. Und drei Tage später vermuteten alle, sie hätten dieses harmonische Ende bloss herbeigeträumt.

Wir sind nicht uns selbst

Und ja, diese Analyse hier kann Spuren von Polemik und Übertreibung enthalten. Aber nur mikroskopische. Einerseits beobachte ich Menschen, die ich im richtigen Leben als umgänglich und ausgeglichen wahrnehme, in den sozialen Medien rechts und links Schmähungen und Schimpfwörter verteilen. Andererseits bin ich zwischenmenschlich zwar Konflikten nicht völlig abgeneigt, aber doch auf Harmonie bedacht. Und trotzdem beobachte ich mich dabei, wie ich auf Twitter und Facebook ums Verrecken gewinnen will.

Warum?

Ich vermute folgende Gründe:

1) Es ist ein Schaukampf

Der Streit findet, je nach Situation, vor einem kleineren oder grösseren Publikum statt. Die Plattform ist eine Arena mit Regeln, die sich uns intuitiv erschliessen: Wir verstehen, dass wir nicht mit einer differenzierten Argumentation beeindrucken, sondern mit dem Holzhammer. Twitter befördert mit seiner Zeichenbeschränkung – die für zahlende Twitter-Blue-Kunden aufgehoben wurde, für die meisten Nutzerinnen aber weiterhin gilt – die Verkürzung und Zuspitzung.

2a) Es wird schnell ideologisch

Es sind oft die immergleichen Themen, an denen sich die Konflikte neu entzünden. Und zügig werden sie in den Auseinandersetzungen auf die grundsätzlichen Werte zurückgeführt. Ich zähle dazu Toleranz, Freiheit, Solidarität, Konservatismus und Liberalismus. Wir alle haben Überzeugungen, die uns als Fundament für unsere Haltungen dienen und die wir zu verteidigen gewillt sind. Wir vertrauen dem Fortschritt und der Wissenschaft, oder wir haben eine, sagen wir mal, spiritualistische Ausrichtung. Wir betonen den Gemeinsinn oder die Selbstbestimmung des einzelnen.

Und irgendwie scheinen es die sozialen Medien zu begünstigen, dass wir uns selbst dieser Überzeugungen immer wieder versichern müssen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass bei jeder Twitter-Debatte und bei jedem Facebook-Streit sich einer einmischt, den wir bislang noch nie gesehen haben und bei dem wir Angst haben, er könnte uns dem falschen Lager zurechnen, wenn wir nicht sogleich unsere Glaubenssätze proklamieren.

2b) Viele der Streithähne sind «aufgeheizt»

Die sozialen Medien bringen es auch mit sich, dass wir manche Auseinandersetzungen viel häufiger austragen, als das früher der Fall war. Etwas überspitzt gesagt, kommt ständig wieder einer ums Eck, der mit irgendeiner Behauptung, einem Link oder einem Meme die eine alte Debatte neu entflammt.

Das hat zur Folge, dass viele von uns bei gewissen Themen routiniert argumentieren. Wir hauen unsere Argumente raus, dass es nur so kracht. Das Zuhören tritt in den Hintergrund. So kann es passieren, dass wir nicht oder nur mit Verzögerung merken, wenn wir es mit einem neuen, interessanten und bedenkenswerten Einwand zu tun bekommen.

Natürlich spielt auch unsere Prägung eine Rolle: Wir haben erfahren, dass wir bei vielen vorangegangenen Streitereien nichts gelernt und nichts bewirkt haben. Wieso sollte das also bei dem gerade aktuellen Disput anders sein? Das führt dazu, dass mehr agitiert als argumentiert wird.

2c) Provokation wird belohnt

Viele dieser Mechanismen sind nicht auf die sozialen Medien beschränkt. Sie sind auch im richtigen Leben zu beobachten, wo man oft von Identitätspolitik spricht. Ich glaube aber, dass es die medialen Mechanismen sind, die harte Positionen gegenüber von Kompromissbereitschaft und Entgegenkommen belohnen.

Das ist besonders deutlich bei den sozialen Medien und ihren Algorithmen: Die Provokateure und Brandstifter werden von den Algorithmen nach oben befördert, weil sie die Verweildauer und die Präsenz auf den Plattformen erhöhen und damit die Werbeumsätze ankurbeln.

Oder kurz gesagt: Wer einen Streit entfacht oder den aktiv befeuert, nützt den Plattformen und wird belohnt. Wer Leute zum Nachdenken oder Einlenken bringt, schadet: Er bringt Nutzerinnen und Nutzer dazu, dass sie sich ausloggen und zusammen ein Bier (oder einen Smoothie) trinken gehen.

3) Der Streit kann lange schwelen

Nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, dass die Streitereien in den sozialen Medien nicht in Echtzeit, sondern mit Verzögerung stattfinden: Wir schreiben etwas, setzen den Post ab und müssen uns gedulden, bis eine Reaktion erfolgt. Das gibt uns Zeit, weiterzugrübeln, den Ärger in uns köcheln zu lassen und uns weiter in die Angelegenheit hineinzusteigern.

Da diese Auseinandersetzungen sich meist ungeplant ergeben, kollidieren sie ausserdem mit unseren normalen Leben: Wir wollten uns vielleicht der Arbeit oder Familie widmen, uns entspannen, ein Buch lesen oder aufs Wochenende freuen – und finden uns unvermittelt in eine Debatte wider, die keinen vordefinierten Endpunkt hat. Wenn wir dagegen in der Kantine uns mit Kollegen in die Haare geraten, dann ist klar, dass diese Episode vorbei sein wird, sobald wir aufstehen und uns zurück zur Arbeit begeben. Das Gleiche gilt für den Krach am Stammtisch, wo uns der Wirt zur Polizeistunde auf die Strasse setzt.

Bei Social-Media-Krächen ist das, wie eingangs erklärt, nicht der Fall. Das ist eine Belastung und ein Stressfaktor. Die Schuld dafür geben wir nicht uns, der Plattform oder den Algorithmen, sondern unserem (vermeintlichen) Gegner. Er gibt nicht nach (wir allerdings auch nicht), und er ist Schuld an dem ganzen Elend. Darum soll er wenigstens – das ist das Mindeste – als gedemütigter Verlierer vom Platz. Und voilà, schon haben wir eine Situation, aus der nichts Gutes entstehen kann.

Beitragsbild: Und gleich noch einer hinterher (Hermes Rivera, Unsplash-Lizenz).

One thought on “Von der hohen Kunst, einen Social-Media-Streit zu beenden

  1. Seit ich gemerkt habe, dass leider viele, auch intelligente, Leute, nicht zu guten Diskussionen willens oder fähig sind, halte ich mich von vielen Auseinandersetzungen fern. Auch wenn man vielleicht „gewinnt“, macht es keinen Spass, wenn der Gegner sich nicht an Regeln hält oder ein Idiot ist.

    Woran erkennt man unwürdige Diskussionspartner? Klar ist es bei Lügnern, diese kommen häufig aus der Politik, wo Ideologie häufig mehr zählt als Wahrheit. Dann sind mir Leute zuwider, die ihre Diskussionsgegner nicht als Menschen mit anderer Meinung, sondern als minderwertig wahrnehmen. Dies äussert sich häufig in Beleidigungen. Und dann noch die Moralisten, die der Welt kundtun müssen, auf der richtigen Seite zu stehen. Die letzten zwei Jahre gut erkennbar durch Spritzen-Emoji im Profil.

    Im Usenet gab es die Usenet-Laws. Die sind alt, aber oft auch auf Diskussionen in neueren Medien anwendbar.

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