Mann, Jordan, wie dämlich kann man sein!

Jordan hat vergessen, aus ihrem Youtube-Video jene Szene raus­zu­schneiden, die ver­rät, dass alles eine Insze­nie­rung ist. Zeit für Scha­den­freude! Oder? Oder?!?

Ihr werdet mir gleich sagen, ich sei ein Volltrottel, mich überhaupt mit solchem Schund zu beschäftigen. Ihr habt recht.

Mama erklärt dem Sohn, wie er glaubwürdig in die Kamera heult.

Aber es gibt nun einmal die Rubrik Der Online-Shit der Woche in meinem Blog. In der tue ich Busse, wenn mein Mausfinger schneller geklickt hat als mein Hirn «Neeeeeinnn!» schreien konnte und ich diesem armen Hirn deswegen wieder eine Portion Online-Dreck zugemutet habe.

Schuld ist auch in diesem Fall wieder James, der Twitter-Grossverdiener. Seine Postings werden von Elons Algorithmus so geliebt, dass er sie ständig in meiner Für dich-Timeline platziert. Auch dieser Ausrutscher einer Youtuberin, die sich selbst ans Messer geliefert hat, ist mir so in die Quere geraten.

Das Ereignis, um das es im Video geht, ist zwar schon vor drei Jahren passiert. Aber wieso sollten wir uns nicht nochmals darüber lustig machen? Aus Sicht des Online-Mobs hat sie nichts Besseres verdient, wo sie ihrerseits ihre Zuschauerschaft beschissen hat.

Die Frau, Jordan Cheyenne, wollte ein rührseliges und deswegen maximal klickträchtiges Video in die Welt setzen. Das wäre ihr auch gelungen, hätte sie nicht vergessen, den verräterischen Teil herauszuschneiden. In dieser Passage instruiert sie ihren Sohn, wie er glaubhaft in die Kamera heulen soll. Im Video sollte es um den Familienwelpen gehen, bei dem angeblich das potenziell tödliche Parvovirus diagnostiziert worden war.

Tja, so ist die Inszenierung aufgeflogen. Sie hat ein Entschuldigungsvideo fabriziert, das manchen wiederum als «das erbärmlichste Entschuldigungsvideo auf Youtube» gilt.

Kein Happy End

Danach hat sie ihre Konten gelöscht, wie «Yahoo Finance» uns hat wissen lassen. Warum auch immer sich «Yahoo Finance» mit diesem Thema befasst. Ein Happy End?

Nein. Kaum ein halbes Jahr später waren die Konten und Frau Jordan Cheyenne wieder da, wie «The Independent» im Februar 2022 pflichtbewusst rapportiert hat:

Am 25. Januar kehrte Cheyenne zum ersten Mal seit fünf Monaten auf ihren Youtube-Kanal zurück und veröffentlichte ein Video mit dem Titel «I was cancelled worldwide and my life changed forever», in dem sie über die Zeit nachdachte, die sie offline war, und darüber, was sie aus dieser Erfahrung gelernt hat.

Was das Wort Cancelled heisst, hat sie in der Zeit jedenfalls nicht gelernt.

Aber deswegen sind wir nicht hier. Sondern, damit ich Busse tue: Ich habe das Video angeschaut. Ich habe Schadenfreude empfunden. Ich habe gedacht: «Läck, so etwas sackdoof Dummes könnte mir niemals passieren!»

Das Problem mit dem Abwärtsvergleich

Das ist ein klassischer Abwärtsvergleich, der das Selbstwertgefühl aufmöbeln soll. Aber gleichzeitig beschädigt er dieses Selbstbild. Zumindest bei Menschen, die den Anspruch haben, nicht auf andere herabschauen zu wollen.

Damit sind wir beim Kern des Problems. Und ja, irgendwie bin ich Teil dieses Problemkerns, wenn ich dieser Rubrik hier eine religiös-moralische Perspektive verleihe und «Busse tun» will. Ich gestehe hiermit, dass das ein rhetorischer Kniff ist, der für ironische Distanz sorgen soll.

Denn dieses Video und diese viralen Memes zwingen mich, auf eine Weise moralisch zu werden, die mir gleich in dreierlei Beziehung unangenehm ist:

  1. Ich mag es nicht, auf andere herabzuschauen.
  2. Ich weiss aber, dass ich, wie die allermeisten Menschen, anfällig bin für Unterhaltung, die an die niederen Instinkte appelliert. Das stört mich an mir. Aber ich verweigere mich den einschlägigen Inhalten, denen ich auf Twitter und Facebook begegne, auch nicht konsequent genug.
  3. Und wenn es darum geht, diese Dinge zu diskutieren, dann verfalle ich in die Rolle des Tugendwächters und Gutmenschen, der den Zeigefinger hebt und zu einer Rede ansetzt, in der erklärt wird, wie unwürdig es ist, solche Posts in den sozialen Medien in Umlauf zu bringen, nur um damit selbst Reichweite und Monetarisierung zu erzielen.

Allerdings denke ich, dass genau diese Abneigung den Tech-Konzernen in die Hände spielt. Niemand von uns hat laut genug gesagt, dass Twitter keine Videos in die Für dich-Timeline spielen sollte, die auf unsere niederen Instinkte zielen und Abwärtsvergleiche auslösen. Auch die Nutzerschaft von Facebook ist diesbezüglich viel zu duldsam, und was bei Tiktok abgeht, kann ich nur ahnen.

Big Brother, Dschungelcamp, Twitter und Facebook

Und klar: Auch im klassischen Mediensystem gibt es die Boulevardmedien und das Privatfernsehen. Die haben schon in der Zeit vor den sozialen Medien erkannt, wie kommerziell vielversprechend Abwärtsvergleiche sind. Einen Meilenstein des Prekariatsfernsehens hat 2000 Big Brother gesetzt. Und wenn ich mich nicht irre, hält sich einer der Nachfolger, das Dschungelcamp, bis heute.

Auch in den sozialen Medien gibt es unterschiedliche Grade der Kultiviertheit (sie links lässt ihren Butler twittern). (Dall-e 3)

Also, ist es angebracht, hier den Tugendwächter und Gutmenschen zu geben und Twitter und Facebook dafür zu verdammen, dass sie diesen Mechanismus fürs Web übersetzt haben? Wenn wir es weniger moralisch betrachten wollen, dann könnten wir sagen, dass der Bedarf existiert. Wir müssen auch online damit leben, dass wir eine Spezies sind, die ganz unterschiedliche Ausprägungen von Kultiviertheit an den Tag legt.

Ein Ding prangere ich an – und zwar ohne jegliche Furcht, hinterher als Moralapostel zu gelten: Ich nehme es den sozialen Medien wirklich übel, dass sie es uns so schwer machen, uns von derlei Inhalten abzugrenzen und sie aus unserer Timelines fernzuhalten.

Beitragsbild: Krokodilstränen (Dall-e 3).

Kommentar verfassen