Wie die Zeitung eine digitale Revolution verschlafen haben

Vor vierzig oder viel­leicht auch fünfzig Jahren veränderte das Desktop-Publi­shing die Me­dien­pro­duk­tion. Ein Blick ins Archiv zeigt, dass die Schwei­zer Zeitungen des­sen Be­deu­tung lange ver­kannt haben.

Das Desktop-Publishing feiert heuer seinen vierzigsten Geburtstag. Vielleicht wird es im nächsten Jahr auch fünfzig; was die Datierung angeht, sind sich die Geschichtsschreiber nicht ganz einig¹. Doch welche Daten man auch immer als massgeblich erachtet: Es war eine Revolution damals, die es uns ermöglichte, Drucksachen mit handelsüblichen Gerätschaften zu gestalten und nicht mehr mit Spezial-Maschinen, die Hunderttausende Franken kosteten².

Jedenfalls ein guter Aufhänger für meine Rubrik Tech-Premiere: Wie wurde in der Schweiz zum ersten Mal über das Desktop-Publishing (DTP) berichtet?

Die Recherche ist leider ähnlich unergiebig wie zum ersten Macintosh: Es gibt Dutzende Inserate, die keinen Zweifel daran lassen, dass die Schweizer Computerbranche die Bedeutung dieser neuen technischen Entwicklung genau erkannt hatte. Für die Redaktionen gilt das nicht; in der Berichterstattung kommt das Thema nicht vor.

Die erste Erwähnung stammt – falls ich unter all den Inseraten keinen Artikel übersehen habe – aus dem «Bund» vom 19. November 1986³. In dieser Ausgabe ist eine achtseitige Informatikbeilage namens «Computer-Bund» erschienen.

Was damals als «künstliche Intelligenz» durchging

Auf der Aufschlagseite dieser Beilage finden wir einen Bericht über Expertensysteme. Und siehe da, hier begegnen wir nebenbei auch dem heute so allgegenwärtigen Schlagwort der künstlichen Intelligenz:

Die Künstliche Intelligenz drängt aus den Laboratorien in die praktische Anwendung. Sie habe dort auch schon erste Bewährungsproben bestanden, versichern Hersteller von Expertensytemen, also Computerprogrammen mit Fachwissen.

Allerdings wird schnell klar, dass der Journalist den Begriff der KI nicht im heutigen Sinn verwendet, sondern mehr oder weniger schlau programmierte Datenbanken meint.

«Die Schreibtischtäter kommen!»

Mit Mac und Laserdrucker produziert.

Aber zurück zum DTP, das in dieser Zeitungsausgabe mit auf einer ganzen Seite gewürdigt wird – die originellerweise mit Macintosh und Laserdrucker produziert worden ist – vermutlich eine Premiere in der Schweizer Zeitungslandschaft.

Der Artikel «Schreiben wie gedruckt?» führt uns mit folgenden Worten ins Thema ein:

Erste Computer konnten kaum rechnen. Jetzt machen Layoutprogramme und Laserdrucker für Hausgebrauch Setzern die Arbeit streitig. Jeder ein kleiner Gutenberg – die Schreibtischtäter kommen!

Wer bei diesem Intro eine kulturpessimistische Stossrichtung befürchtet, wird nicht enttäuscht. Der Autor, Daniel Perrin, traut den Amateuren nicht viel zu:

So schwappt denn die «Mach-es-selbst»-Welle nach den Häkelmützen- und Holztäfer-Booms auf typografische Bereiche über. Natürlich: Was wie gedruckt ausschaut, wirkt echt. Selbst schreiben ist wieder in!

Überholt und überheblich

Das ist aus heutiger Sicht eine überholte und überhebliche Sichtweise. Wir wissen, dass die – Pardon für die sozialistische Formulierung – Demokratisierung solcher Produktionsmittel ein grosses Potenzial an Kreativität freisetzt. Man hätte schon damals ahnen können, dass es schöpferische Menschen nicht nur bei den Gestaltungsexperten und den gelernten Setzerinnen gibt, auch wenn dort die Dichte (im Idealfall) höher ist als bei der normalen Bevölkerung.

Aber gehe davon aus, dass sich Perrin von der abwehrenden Haltung der Berufsleute im grafischen Gewerbe hat anstecken lassen, die geahnt haben, dass ihnen eine neue Konkurrenz droht:

Klar also, dass sich das amerikanische «Desktop-Publishing», die Veröffentlichung von Selbstgemachtem ab Computer, auch bei uns durchzusetzen beginnt, nachdem erste Begeisterungsstürme die Satz- und Druckindustrie der USA und Deutschlands in Schönschrift erschüttert haben.

Was Perrin nicht erwähnt oder nicht begriffen hat, ist der Umstand, dass das Desktop-Publishing natürlich auch für Anbieter selbst ein riesiges Sparpotenzial beinhaltet – wenn sie denn gewillt sind, die Revolution mitzumachen.

«In der Hand des Laien bloss Laienarbeit»

Immerhin. Er sieht nebst den Gefahren auch mögliche positive Auswirkungen:

DP [heute DTP] spart Satz- und Layoutkosten bei Druckerzeugnissen, die früher von Profis endverarbeitet worden sind, bei Büchern also, Katalogen, Broschüren. Mit den Kosten verringert DP hier allerdings meist die optische Qualität: Auch das beste Computerprogramm leistet in der Hand eines Laien bloss Laienarbeit. Andererseits aber hilft DP beim Anfertigen von Unterlagen, die früher ungenau von Hand und mit wackliger Schreibmaschine gebüezt worden sind. Werbeschriften, Arbeitsblätter und Geschäftskorrespondenz kriegen endlich ihr sauberes Gesicht. Hier steigert DP die optische Qualität.

In diesem Rundumschlag finden wir einen Abriss zum Arbeitsablauf beim DTP («So publishen Sie desktop»), eine Erklärung fürs WYSIWYG, Hinweise zum Unterschied von Laserdruckern und Belichtern (Linoprinter), sowie eine eine erstaunlich kurze Erklärung zur Software. Noch erstaunlicher: Der Macintosh wird mit keinem Wort erwähnt – nur der Firmenname Apple taucht zweimal im Text auf.

Details zu Hard- und Software kommen zu kurz

Dabei ist der Kern dieser Revolution natürlich die Kombination aus Hardware (Mac und Laserdrucker) und der Software, nämlich Aldus Pagemaker:

Kern jeder Computeranwendung ist die richtige «Software», das Programm. Vor- und Spitzenreiter für «Desktop-Publishing»: «Page Maker» vom Software-Entwickler Aldus. «Page Maker» läuft auf Apple- und ab 1987 auch auf IBM-ähnlichen Computern und kostet um 1300 Franken.

Fazit: «Der Bund» hat eine wichtige Entwicklung früh erkannt und ihr in der Berichterstattung angemessen Raum gegeben. Seltsam bleibt die widersprüchliche Haltung: Die Service-Tipps helfen den Leserinnen und Lesern dabei zu erkennen, dass das Desktop-Publishing auch für kleine und mittlere Unternehmen handfeste neue Möglichkeiten eröffnet, aber die potenziellen Nutzerinnen und Nutzer für möglichen Dilettantismus präventiv zu beleidigen, schmälert diese Pionierleistung ganz beträchtlich.

Fussnoten

1) James Davise hat für eine Gemeindezeitung in Philadelphia ein Programm namens Type Processor One entwickelt, das eine WYSIWYG-Darstellung zu bieten hatte. Dieses Programm kam 1984 in den Handel; aber was alles konnte – und ob man damit schon Gestaltungsarbeit betreiben konnte, die den Namen verdient, habe ich nicht schlüssig geklärt.

WYSIWYG als Konzept ist älter. Das entstand schon in den 1970er-Jahren am legendären Forschungszentrum Parc von Xerox. Dort wurde mit dem Alto ein Computer entwickelt, der auch Steve Jobs nachhaltig beeindruckt. Darauf lief auch Bravo, ein Programm zur Gestaltung von Dokumenten, das 1974 von Butler Lampson, Charles Simonyi und Kollegen entwickelt worden war, aber nie in den Handel gelangt ist. Wenn das als Startschuss fürs Desktop-Publishing gelten darf, dann feiern wir nächstes Jahr sogar den fünfzigsten Geburtstag dieser Revolution.

2) Zwei Videos dazu: Elektronische Bildbearbeitung 1987, also noch vor vor Photoshop und hier ein Rückblick von Martin Spaar, der mit dem «Publisher» in der Schweiz die massgebliche Fachzeitschrift fürs DTP herausgegeben hat.

3) Aufgestöbert über das e-news­paper­archives.ch: Mehr zu dem, siehe Wie wir die Nase in alte Schweizer Zeitungen stecken.

Beitragsbild: Der Macintosh ist dem «Bund» in seinem Erlärstück zum Desktop Publishing noch nicht einmal eine namentliche Erwähnung wert (StockSnap, Pixabay-Lizenz).

4 Kommentare zu «Wie die Zeitung eine digitale Revolution verschlafen haben»

  1. Danke für diese Revue, die mich in meine jüngeren Berufsjahre zurückversetzt 🙂

    Der Zeitrahmen stimmt. Ich war damals sog. EDV-Koordinator (seit 1978) in einem Institut der UZH und anfangs der 1980er Jahre Werkstudent bei der IBM. Habe als solcher mit Programmen wie IBM Skript und Waterloo Skript gearbeitet, die man als Vorläufer des Desktop-Publishing anschauen kann – es war eben noch nicht WYSIWIG, sondern die Formatierungsbefehle standen im Fliesstext drin; funktionierte aber recht gut, habe meine Diss. damit geschrieben, noch auf dem Grossrechner der Uni, und 1987 drucken lassen. Natürlich war ich als „Phileiner“ damit ein ziemlicher Exot, meine lieben KollegInnen im Romanischen Seminar usw. verabscheuten damals so ziemlich alles, was nur schon von weitem mit Technik zu tun hatte 😉

    1984 oder 1985 bekamen wir im Institut den ersten Mac (u.a. weil man darauf phonetische Zeichen programmieren konnte), damit begann dann schon dieses Zeitalter.

    Übrigens: 1987 bekam ich bei den Mettler Instrumente AG (heute Mettler-Toledo) die erste Mailadresse, noch mit den Ausrufezeichen, konnte aber doch schon international mailen. Ebenfalls 1987 hörte ich den Ausdruck Künstliche Intelligenz zum ersten Mal, in der Abt. Zentrale Forschung dieser Firma (von Dennis Baggi selig, der gleichzeitig Visiting Professor an der Universität in Berkeley/CA war), und zwar durchaus im heutigen Sinne, denn es ging um Systeme, die eigenständig bestimmte Dinge in der Reaktionskaloremtrie erledigen konnten und lernfähig waren; das Ganze mit LISP programmiert.

    Und natürlich hörte ich auch von ihm den Gegenausdruck der „natural stupidity“ 🙂

    1. Gute Frage, die ich mir beim Googeln des Namens auch gestellt habe. Ich halte es für eher unwahrscheinlich, da der Daniel Perrin im «Bund» für mich schon etwas älter klingt – sodass ich vermute, dass er heute pensioniert ist.

  2. Wunderbarer Artikel! Ich kann mich noch an einen ausführlichen Bericht im Magazin „Atari ST“ erinnern (hatte alle, aber leider habe ich sie mal beim Zügeln entsorgt – wären heute tolle Trouvaillen!), zu sogenannten Expertensystemen erinnern. Gerade im Gesundheitsbereich wurde damals diesen Systemen eine Revolution zugetraut, weil eben „schlaue Datenbankabfragen“ zu Resultaten kommen durch gesammeltes Wissen der Datenbank, welches ein einzelner Arzt so kaum haben kann.

    Nun, die Welt hat sich weiter gedreht, aus Expertensystemen wurde KI, aber die KI macht auch nicht grundsätzlich etwas anderes als vor 40 Jahren: sie greift auf gesammeltes Wissen zurück. Nur, das „Wissen“ ist unterdessen unendlich viel grösser und breiter und der Algorithmus ist nicht mehr wirklich zu durchschauen – vor 40 Jahren war das alles noch handgestrickt.

    Und zum Thema DTP: Ich weiss noch, wie ich 1987 (oder 1988) mit einem raubkopierten Calamus auf dem Atari ST zu Hause Zeitungsseiten nachgebaut habe mit Scherznachrichten und verblüffendem Layouot. Die waren eine Weile lang der Brüller unter Verwandten und Bekannten. Leider konnte ich das nur in s/w mit meinem 24-Nadel-Drucker ausdrucken. Sah aber immerhin besser aus, als Dinge, die man früher mit dem 9-Nadel-Drucker geprintet hatte. Meine Ohren hören den Ton des Druckers immer noch :-).

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