Was die Nachbarn zu sagen haben

Auf der Suche nach einem sozia­len Netz­werk, das aus Spass und nicht bloss aus Gewohn­heit zu nutzen wäre, bin ich bei der «hyper­loka­len Com­munity» Jodel gelandet. Gab es einen dort Freu­den­schrei?

Facebook geht mir zunehmend auf die Nerven, Instagram ist seit Jahren kaputt und Twitter ist seit Elon Musks Eskapaden auch nicht mehr das Wahre. Man könnte nun hoffen, dass das Anzeichen dafür sind, dass diese traditionellen sozialen Medien auf das Ende ihrer Lebenszyklen zusteuern und ein Generationenwechsel bevorsteht.

Ich teile die Hoffnung, gebe mich allerdings keinen Illusionen hin: So schnell werden wir Zuckerberg und Musk nicht los – dafür ist die Übernahme von Twitter ein beredtes Beispiel. Mit den 44 Milliarden, die er für den Deal hinblättern will, hätte man eine tolle, neue Plattform aus dem Boden stampfen können. Doch weil es schwierig bis unmöglich ist, eine kritische Masse von Nutzern zum Wechsel zu bewegen, hat der Aufkauf einer bestehenden Plattform mehr Aussicht auf Erfolg.

Mit anderen Worten: Die Chancen für die Herausforderer stehen auch weiterhin schlecht. Das soll mich jedoch nicht daran hindern, auch weiterhin Alternativen zu testen. Ich habe mir, nach meinem ersten Augenschein von 2018, Mastodon für die Tamedia noch einmal angeschaut. Das erlebte ich als positiv: Die Stimmung dort ist gut und Kinderkrankheiten wurden ausgeräumt: Es ist inzwischen einfach, Nutzern über die Instanzen hinweg zu folgen. Ein Problem bleibt, und das ist die Auffindbarkeit. Wenn Mastodon Erfolg haben soll, muss es möglich sein, Personen zu suchen und zu finden, egal bei welcher Instanz sie ihren Account haben.

Die Social-Media-Zukunft findet nicht bei Bereal, OnlyFans oder Gettr statt

Ferner habe ich mir auch Bereal, OnlyFans und Gettr angeschaut, aber bei keinem dieser Herausforderer das Gefühl verspürt, sofort Aktien der dazugehörigen Unternehmen zu kaufen. Die haben allesamt kein nachhaltiges Geschäftsmodell: Bereal und Gettr setzen beim Frust auf Instagram und Twitter an, OnlyFans bei der Geilheit des männlichen Geschlechts. Und nicht mal Sex scheint mir ein ausreichend grosser Hebel zu sein: Der mag zwar gewinnträchtig sein, hat aber nicht das Zeug zu einer universellen Plattform, auf der sich alle Schichten, Geschlechter und Altersgruppen aufgehoben fühlen.

Aber heute gibt es einen neuerlichen Versuch, und zwar mit Jodel.

Vorauszuschicken wäre, dass diese Plattform auch nicht mehr brandneu ist und allein wegen ihres Konzepts nicht in der Lage ist, zum nächsten grossen völkerverbindenden Ding zu werden. Es gibt sie seit 2014 und es handelt sich um eine «hyperlokale Community». Sie will Leute in der näheren Umgebung zusammenbringen, was zwangsläufig dazu führt, dass sich viele regionale Grüppchen bilden, aber keine globale Zusammenballung.

So anoynom nun auch wieder nicht

Die Beiträge aus der Umgebung: Bunte Kästchen, viel Text, aber kaum Bilder.

Es gibt die App fürs iPhone und Android. Sie stammt aus Deutschland und hat in den letzten Jahren gemäss Wikipedia nach Österreich, Schweden, Norwegen, Dänemark und in die Schweiz expandiert. Sie funktioniert anonym, wobei das, wiederum gemäss Wikipedia, so eine Sache ist: Mit einem Triangulierungstrick lässt sich der Standort eines Nutzers herausfinden und ausserdem kooperiert der Betreiber mit Ermittlungsbehörden. Das sollte man bei der Benutzung jedenfalls im Hinterkopf behalten.

In der Hauptansicht gibt es einen Strom von Nachrichten in bunten Kästchen, die in die drei Kategorien Neueste, Meist kommentierte und Lauteste eingeteilt sind. Obwohl ich Jodel von Winterthur aus nutze, erscheinen stammen die meisten Nachrichten aus Zürich.

Gut im Rennen ist auch Uster; das scheint eine Art Jodel-Hochburg zu sein. Meine Heimatstadt Winterthur wirkt apathisch. Wenn man am oberen Rand auf den Ort tippt, kann man zwischen den Ortschaften wechseln, wobei in der Liste anscheinend nur Gemeinden auftauchen, an denen man die App bereits benutzt hat. Die Option Dynamischer Radius sorgt dafür, dass man auch weiter entfernte Jodels zu sehen bekommt, wenn sich am eigenen Standort nichts tut.

Kraut, Rüben, Banalitäten und Sexgeständnisse

Im Hauptkanal bekommt man es mit einem thematischen Mix aus Kraut und Rüben zu tun. Die kleinen Dramen, die in meinem Facebook-Freundeskreis niemand öffentlich posten würde:

oh man mini best kollegin het ihri täg, und ihre fründ isch en arsch, drum bring ich ihre jetzt schoggi😁

Erlebnisberichte, die darauf schliessen lassen, dass ich für Jodel wahrscheinlich schon zu alt bin:

Zum erste mal Ritalin versuecht. De chopf isch super da, aber de körper wod nüm stillsitze. Mues glaub im laufe lerne.

Darauf deutet auch diese Wortmeldung hier hin:

😂 mini fründin isch hässig uf mich will ich ihre gantwortet han, dass sie „nur“ 2. Priorität isch nach minere mum. Dafuq?!

Dann aber doch ein Thema, das aus meinem Dunstkreis stammen könnte:

Lüt redet immerwieder über aboprise vo netflix etc… Ihr wüssed scho dasmer ide schwiz gratis chan streame und praktisch null abos brucht? Ihr zahled nur fürd bequämlichkeit

Die Kommentare auf diesen Beitrag enthalten das, was ich auch geschrieben hätte. Der Erkenntnisgewinn ist jedenfalls bescheiden, wie bei vielen anderen Jodels – wie das halt so ist, wenn man nicht bei bekannten Vorlieben ansetzen und keine gemeinsame Vorgeschichte hat, auf der man aufbauen könnte.

So wird viel Banales gejodelt. Aber ab und zu gibt es doch die Beiträge, bei denen ich etwas länger hängen bleibe:

Ich halb schwiizer halb peruaner, schaffe momentan ufem Gartebau und han langsam wüki d’schnauze voll vo gwüssne schwiizer. Chunnt de Chund usem huus use während ich am schaffe bin & seit direkt ohni hoi sege so. Chasch du schwiizerdütsch*

Nebst Textbeiträgen gibt es auch Umfragen und ab und zu – aber bloss selten –, auch ein Foto. Bei jedem Jodel gibt es eine Ortsangabe und einer Zeitangabe, wie alt der Beitrag ist. Über einen Pfeil nach oben und einen nach unten kann man Beiträge hoch- und runterstufen. Ich vermute, dass «laute» Beiträge solche sind, die viele «Upvotes» erhalten haben.

Seine Nachbarn findet man doch auch nicht sonderlich spannend

Ob man sich hier wirklich medizinischen Rat einholen sollte?

Es stellt sich die Frage: Ist geografische Nähe ein ausreichender Grund, dass man auch miteinander kommunizieren möchte? Ich bin mir unschlüssig. Einerseits natürlich ja, weil vernünftige Leute ein natürliches Interesse für ihr Umfeld haben. Andererseits nein, zumal die Erfahrung zeigt, dass ich mit den meisten meiner Nachbarn, mit denen ich zufällig im gleichen Mietshaus wohne, nicht mehr als ein paar Floskeln wechsle. Wenn es um tiefgründigere Unterhaltungen geht, dann braucht es geteilte Vorlieben und gemeinsame Themen.

Dieses Problem adressiert Jodel über die sogenannten Channels. Die erinnern an die Chaträume der IRC-Chats, die den älteren unter den Internetnutzern noch ein Begriff sein dürften. Dort spricht man dann über das Coronavirus, die Ukraine, internationale oder nationale Politik und solche Dinge. Zu den beliebtesten Channels gehören @askladies, @flachwitzchannel, @schwarzehumor, @berufsgeheimnisse und @sexbeichte.

… es hätte mich auch sehr gewundert, wenn hier nicht ein paar versaute Gestalten unterwegs gewesen wären. Kein Wunder, dass es im Menü zu jedem Jodel nebst den Befehlen Pinnen, Benachrichtigungen aktivieren, Teilen und In Channel verschieben auch die Option Diesen Jodel ausblenden und Diesen Jodel melden gibt.

Nur positive Vibes

Jodeln hat mit Respekt zu tun.

Wenn man selbst jodeln will, muss man versprechen, dass man keine persönlichen Daten angibt, niemanden beleidigt und positiv bleibt. Dann kann man seine Botschaft tippen, für den eine Hintergrundfarbe wählen, einen Link, ein Bild oder eine Umfrage hinzufügen.

Ausserdem wird man mit der Möglichkeit konfrontiert, seinen Jodel zu boosten. Dann sieht jeder Nutzer in der Umgebung den Post an vierter Stelle – was aber eine teure Angelegenheit ist. Wenn man eine Stunde boostet, kostet das 18 Franken. Für zwölf Boost-Stunden zahlt man 10.83 Franken und für 24 Stunden 9.17 Franken. Und wenn wir bei der Monetarisierung sind: Spezielle Hintergrundfarben, Werbefreiheit, drei kostenlose Boosts, den Explorer-Modus ohne Ortsbeschränkung und spezielle App-Symbole kosten 2.50 Franken pro Woche, 5.50 Franken pro Monat oder 47 Franken im Jahr.

So respektvoll nun auch wieder nicht

Fazit: Die Idee leuchtet mir ein. Und es ist bemerkenswert, wie auch auf banale Wortmeldungen sofort Reaktionen eintrudeln – auch wenn die trotz des Respekt-Gebots mitunter ruppig ausfallen.

Trotzdem würde ich der App zugestehen, dass sie eine moderne Fortführung der alten IRC-Chat-Idee ist. Das anonyme Plaudern hat etwas für sich, weil es die Schwellenangst senkt und einem dennoch das Gefühl gibt, es mit echten Menschen zu tun zu haben, die man gegebenenfalls ohne viel Aufwand auch in Realität treffen könnte. Dafür gibt es eine eingebaute Möglichkeit: Man kann Leuten eine Chatanfrage schicken und dann abseits der Öffentlichkeit anbandeln. Klar – es wäre unverzeihlich, eine App «hyperlokale» App wie Jodel zu lancieren, ohne die Partnersuche miteinzubeziehen.

Diesen verheissungsvollen Möglichkeiten zum Trotz werde ich mit Jodel nicht warm. Dafür bin ich zu sehr Kosmopolit.

Beitragsbild: Ob in dieser uniformen Gegend viele extraordinäre Gedanken entstehen? Aus Glendale, Arizona in den USA (Avi Waxman, Unsplash-Lizenz).

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