Gründe für ein Ja bei Lex Netflix

Die Schweiz stimmt ab, ob Streaming­dienste vier Prozent des Umsatzes hierzu­lande investie­ren sollen und ob es eine Quote für europä­ische Inhalte braucht. Überle­gungen, warum beides sinnvoll ist.

Bei uns in der Schweiz wird in zehn Tagen über das Lex Netflix abgestimmt. Es geht um das Bundesgesetz über Filmproduktion und Filmkultur, das zwei Dinge vorschreiben wird. Erstens müssen die Anbieter vier Prozent ihres hierzulande erzielten Umsatzes in Schweizer Filme und Serien investieren. Zweitens gibt es eine Quote von dreissig Prozent für europäische Inhalte.

Das Schweizer Stimmvolk darf sich zu diesem Gesetz äussern, weil die Jungparteien von FDP, SVP und GLP das Referendum ergriffen haben. Die haben die Befürchtung, die Preise fürs Streaming könnten dadurch ansteigen. Ausserdem halten sie es von einem marktliberalen Standpunkt aus nicht für opportun, dass die Politik den Unternehmen ins Geschäft pfuscht.

Für mich war schnell klar, dass ich ein Ja einlegen würde – auch wenn ich Verständnis dafür habe, dass manche Leute aus meiner Streaming-Bubble überzeugt Nein stimmen werden: Der Knackpunkt liegt nicht bei der Investitionsverpflichtung von vier Prozent, sondern bei der Quote. Die hat diesem neuen Gesetz viele Sympathien gekostet, weil sie dem Kerngedanken des Streamings widerspricht: Nämlich, dass der Konsument wählen kann, was er sehen will. Zählen sollten der persönliche Geschmack und die Vorlieben, nicht irgendwelche politischen Wunschvorstellungen.

Mit dieser Ansicht gehe ich konform. Trotzdem hat sie mich nicht zu einem Nein bewogen. Warum, erkläre ich gleich noch. Aber erst soll es darum gehen, warum ich die vier Prozent Umsatzabgabe für richtig halte.

Jetzt alle: Es ist keine Streaming-Steuer!

Das liegt daran, dass ich das Hauptargument der Befürworter für Mumpitz halte. Es ist offensichtlich, dass Netflix die Preise nicht an den Kosten ausrichtet, die für die Versorgung des Publikums anfallen – sondern daran, was man aus einem bestimmten Markt herausholen kann. In der Schweiz sind die Netflix-Abos teurer als fast überall sonst, obwohl das Anliefern der Bits und Bytes nicht mehr kostet: Die Preise liegen vierzig Prozent über dem, was man in Deutschland und Österreich bezahlt. Und das, obwohl Netflix in Deutschland schon der Regelung zur Filmförderung unterworfen ist. Netflix schröpfe die Schweizer Kunden, ist die grösste Boulevardzeitung im Land überzeugt.

Mit anderen Worten: Netflix wird, wie hier beschrieben, auch weiterhin probieren, genauso viel Geld abzuschöpfen, wie sich abschöpfen lässt – ganz gleichgültig, was danach mit diesen Einnahmen passiert.

Irgendwie muss Netflix sein Geld ja ausgeben

Kommt hinzu, dass Netflix einen grossen Teil dieser Einnahmen sowieso in neue Produktionen investiert – und man sich auf den Standpunkt stellen kann, dass es für Netflix gleichgültig ist, ob diese Investitionen in der Schweiz, in Deutschland oder in Hollywood getätigt werden. Aus Konsumentensicht müsste einem das nur dann zu denken geben, wenn man überzeugt wäre, dass die Schweizer Filmschaffenden nicht in der Lage sind, irgendetwas Sehenswertes zu produzieren – dann wäre das hier investierte Geld tatsächlich verschwendet.

Aber wollen die Jungparteien wirklich die Ansicht vertreten, dass alle Filmemacher hierzulande unfähig sind? Das wäre nicht sehr patriotisch für jene Parteien, die sonst ganz gern die Heimatliebe pflegen. Und es würde die Frage aufwerfen, ob wir tatsächlich eine kulturell so unterentwickelte Region sein wollen – oder ob sich daran nicht etwas ändern liesse.

Es kommt hinzu, dass die Referendumsparteien tatsachenwidrig immer von einer Streamingsteuer sprechen. Das ist falsch, weil die vier Prozent vom Umsatz nicht an den Staat gehen, sondern von Netflix nach Gutdünken ausgegeben werden kann; mit der einzigen Auflage, dass das im Land geschehen muss. Ich nehme an, dass das Gesetz erfüllt wäre, wenn in einer internationalen Koproduktion für einen Historienschinken sämtliche Kostüme hier im Land geschneidert würden, wenn Netflix nicht in der Lage sein sollte, einen begnadeten Regisseur, ein paar Schauspieler oder ein gutes Drehbuch aufzutreiben.

Irgendwann finden sogar wir den Anschluss

Falls in dieser Situation Netflix der Bedarf an Kostümen made in Switzerland ausgehen sollte, dann könnte der Konzern Nachwuchsförderung und einen Know-how-Transfer ins Auge fassen, sodass unser kulturelles Ödland den Anschluss doch noch finden könnte: Sogar dann wäre das eine gute Sache.

Und ja, mich stört, wenn von meinen Abogebühren im eigenen Land so gar nichts hängen bleibt. Mich stört das nicht erst seit Netflix, sondern seit es Werbefenster der deutschen Privatfernsehsender gibt. Die haben anfänglich ein paar Pro-Forma-Sendungen produziert, die allesamt so schlecht waren, dass niemand sie sich angesehen hat und sie wieder verschwunden sind. Das heisst: Wer hierzulande «irgendetwas mit Medien» machen wollte, hatte von diesem deutschen «Engagement» rein gar nichts. Das Geld, das hier verdient wurde und wird, das wird in Deutschland ausgegeben.

Warum die Jungparteien diese egoistische Geldabsaugungsstrategie verteidigen, ist mir schleierhaft. Florian Keller hat es in der «WOZ» pointiert auf den Punkt gebracht:

Ein «Frontalangriff auf unser Portemonnaie» sei das, sagte nun Matthias Müller in verschiedenen Medien. Müller ist Präsident der Jungfreisinnigen, die zusammen mit den Jungparteien von SVP und Grünliberalen das Referendum gegen die «Lex Netflix» ergriffen haben. Daraus muss man schliessen: Der Mann verwechselt das Portemonnaie des Milliardenkonzerns Netflix mit seinem eigenen.

Ist wirklich alles Mist, was in Europa gedreht wird?

Zurück zur Frage, ob die Dreissig-Prozent-Quote sich mit dem Grundgedanken des Streamings vereinbaren lässt. Diese Frage wäre kein Problem, wenn wir nicht intuitiv annehmen würden, dass die dreissig Prozent aus europäischer Produktion viel schlechter sind als alles, was aus dem Rest der Welt kommt – respektive aus Hollywood. Stammt diese Wahrnehmung aus einem tief verwurzelten Minderwertigkeitskomplex, oder ist etwas Wahres dran?

Klar, die Amis haben das globale Verständnis von Popkultur geprägt, wie niemand sonst. Allerdings glaube ich nicht, dass wir alle unfähig sind, daraus zu lernen. Ich bin überzeugt – und sehe auch Anzeichen dafür –, dass die Europäer mithalten können. Umso mehr, wenn sie im Erfolgsfall ihre Produktionen nicht nur in ihrem eigenen Land, sondern auf einer globalen Bühne zeigen können. Dark ist ein Beleg dafür, ebenso Unorthodox. Und falls man Israel zu Europa zählen darf, würde ich auch Shtisel ins Spiel bringen.

Leo Kirchs Archiv gibt es schliesslich auch noch

Ich glaube eben nicht, dass die Amis uns kulturell überlegen sind. Sie haben schlicht viel bessere Marktverhältnisse, indem sie für ihr eigenes Land mit so grosser Kelle anrichten können, dass die resultierenden Produktionen für ein weltweites Publikum attraktiv sind. Diese Marktchancen werden mit Netflix ausgeglichen: Eine polnische Serie wie Sexify kann international Erfolg haben, einen Massengeschmack treffen und eine Chance für Filmemacher in Polen sein.

Darum bin ich nicht überzeugt, dass eine Quote automatisch eine Qualitätsverschlechterung bringt. Sie schränkt auch die Auswahlmöglichkeiten ein, indem es einfach ausreichend europäische Inhalte geben muss, damit keine Inhalte aus den USA und aus dem restlichen Nicht-Europa wegfallen müssen, um das Verhältnis zu wahren. Und falls es auf die Schnelle keine neuen Inhalte gibt, könnte man sich behelfen, indem man den ganzen alten Quatsch aus Leo Kirchs Archiv einstellt. Das Schöne am Streaming ist, dass sich den niemand ansehen muss.

Ein globaler Einheitsbrei?

Fazit: Wenn ich eine Befürchtung hätte, dann eher, dass Netflix für eine Nivellierung sorgt und ein globales Geschmacksempfinden fördert, das keinen Platz mehr für lokale Eigenheiten lässt – überall die gleichen Themen, die etablierte Machart, die Heldenreise, die Stock characters und all die anderen TV tropes (Wie man sich nachhaltig den Spass an Filmen und Serien verdirbt). Aber auch das lässt sich nur verhindern, indem man den Streamingdiensten gewisse Regeln auferlegt, die sie dazu verpflichten, nicht bloss nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung zu funktionieren.

Beitragsbild: Wie seinerzeit im Nerdfunk gefragt: Blüht uns dank Netflix bald das «Missen Massaker 2»? («Um eine dunkle Familienschuld zu begleichen, nimmt die attraktive Jasmin an den Miss-Schweiz-Wahlen teil.» (cineimage.ch))

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