Die Stereofonie ist nun nicht gerade eine brandneue Erfindung. Im Gegenteil; wie uns Wikipedia pflichtbewusst aufklärt, hat diese Form des Raumklangs eine 140-jährige Geschichte. Der erste Film mit Stereoton war Walt Disneys Fantasia von 1940. Die erste Stereoplatte kam 1957 auf den Markt und enthielt auf der einen Seite Geräusche einer Eisenbahn und auf der anderen Seite Dixieland mit den Dukes of Dixieland.
Es stellt sich somit die Frage, ob mit Stereo das Ende der technischen Revolution erreicht ist oder ob es längst überfällig wäre, die nächste Stufe zu zünden. Technisch sind wir längst so weit, dass wir mehr als zwei Tonspuren in eine Audiodatei packen können. Auf analoge Weise ist das aufwändig und fehleranfällig, in digitaler Form wird lediglich die Datenmenge etwas grösser.
Wenn man die Sache nüchtern anschaut, dann kommt man unweigerlich zu einem ernüchternden Schluss: Nämlich demjenigen, dass Stereo gut genug ist – genauso wie auch CD-Qualität mit 44,1 kHz Abtastfrequenz und 16 Bit pro Kanal. Mit Musikdownloads und Streaming sind längst höhere Qualitätsstufen möglich, die es auch längst gibt. Doch offensichtlich findet das nur ein kleiner Teil des Publikums so interessant, dass es bereit ist, einen Aufpreis dafür zu zahlen, zum Beispiel für etwas teurere Streaming-Abos und hochwertigeres Equipment.
Theoretisch toll, praktisch keine grosse Verbesserung
Ich verstehe das. Theoretisch finde ich die Möglichkeiten toll. Praktisch stelle ich fest, dass die Unterschiede so klein sind, dass ich sie mit meinen Gerätschaften nicht höre. Mit einem Kopfhörer jenseits der tausend Franken fallen mir die feineren Nuancen beim hochauflösenden Audio auf – aber so einen Kopfhörer besitze ich nicht. Eine solche Anschaffung liesse sich auch nicht rechtfertigen, weil in meinem Leben schlicht die Zeit fehlt mit geschlossenen Augen aufs Sofa zu sitzen und mich vollends in diesen Nuancen zu verlieren.
Aber es könnte sein, dass das mit echtem Raumklang anders ist und einem moderaten Audio-Enthusiasten wie mir ein neues Hörerlebnis ermöglicht. Denn im Idealfall sind die Unterschiede zu einem normalen Stereo-Track deutlich klarer hörbar. Denn im Kino vermittelt der Raumklang ein echtes Plus an Immersion. Für den Film war Dolby 5.1 eine der grössten Innovationen – die übrigens auch schon einige Jährchen auf dem Buckel hat und sich auch dank Star-Wars in den 1970er-Jahren etablierte.
Kurz und gut: Ich wollte unbedingt mit eigenen Ohren hören, was es mit dem aktuellen Trend auf sich hat, der von mehreren Herstellern befeuert wird. Zum einen hat Sony 360 Reality Audio lanciert, über das ich im Beitrag Mitten drin statt nur dabei geschrieben habe. Zum anderen gibt es von Apple Spatial Audio, das im Mai 2021 angekündigt worden ist: Fortschritt oder Marketing-Furz, habe ich mich seinerzeit gefragt.
Nun habe ich mir einen (im Beitrag Ein Hingucker ist er allemal besprochenen) Airpods Max-Kopfhörer organisiert und ein Abo für Apple Music abgeschlossen, um mir selbst ein Bild bzw. ein Hörerlebnis zu verschaffen.
Ich habe mich in den letzten Tagen durch die Rubrik 3D Audio in der Apple Music-App gehört: Abba mit «Voyage», Ed Sheeran mit «=», Amy Winehouse mit «Back to Black», The Beatles mit «Let it Be (2021 Mix)», Scorpions mit «Peacemaker», und so weiter. Und um es vorwegzunehmen, tue ich mich mit einem Fazit vorerst noch schwer.
Sorry, ich höre den Unterschied nicht
Erstens fällt auf, dass mich der Effekt nicht anspringt. Bei vielen Songs könnte ich in einem Doppelblindtest nicht sagen, ob ich nun die Stereo- oder die Raumklangvariante höre. Das liegt daran, dass zeitgenössische Musik «dicht» produziert ist: Man kriegt eine kompakte Wand aus Sound über den Kopf gestülpt, die einen regelrecht einmauert. Im Zentrum steht die Stimme des Interpretierenden, und die Instrumente sind eng um den Kopf des Zuhörers angeordnet. Das macht das Erlebnis eindrücklich und sorgt dafür, dass die Songs auch aus dem kleinen Küchenradio und den schäbigen Boxen im Mietauto gut klingen.
Doch für Raumklang lässt das keinen Platz: Er lebt davon, dass man beim Zuhören ein Gefühl für den Raum bekommt: Die Sängerin steht ein paar Meter vor einem; das Schlagzeug hinter ihr, rechts etwas weiter entfernt Bassist und Gitarrist und links die Keyboards. Oder so ähnlich.
Es liegt auf der Hand, dass mit der klassischen Rockband-Konfiguration Raumklang nicht viel bringt. Ob vier, fünf Klangquellen nun in Stereo auf einer Linie aufgereiht sind oder etwas versetzt im Raum stehen, macht kein sonderlich grosser Unterschied. Anders sieht es bei einer Big-Band aus, einem Chor, wenn man zwischen Solist und die Sängerschaft gerät. Oder bei einer Liveaufnahme, bei der man das Publikum im Rücken hat – oder vielleicht sogar vor der Nase, sodass man sich auf der Bühne wähnt.
Leiser und weniger druckvoll
Beim Wechseln zwischen Raumklang und Stereo – was beim iPhone übers Kontrollzentrum möglich ist, indem man etwas länger auf den Lautstärke-Knopf tippt und in der bildschirmfüllenden Ansicht auf 3D-Audio tippt und zwischen Aus, Fixiert und Kopferfassung wechselt – wird der Unterschied aber sofort klar. Der 3D-Mix ist im Vergleich zur Stereovariante deutlich luftiger – und darum auch markant leiser und weniger druckvoll. Dafür stehen die Instrumente gefühlt weiter auseinander und wirken weniger klaustrophobisch. Eindrücklich fand ich das bei Amy Winehouse und «Back to Black».
… wodurch ich an dieser Stelle zu einer völlig unerwarteten Erkenntnis gelange: Ich mag die 3D-Variante. Aber nicht unbedingt, weil das Raumklang-Erlebnis so eindrücklich wäre. Es liegt vielmehr daran, dass der Mix besser zur Hörsituation mit den aufgesetzten Kopfhörern passt. In der braucht es nicht diese maximal auf Effekt getrimmte Abmischung: Es verträgt grössere Dynamikunterschiede, mehr Raum fürs Arrangement und generell mehr Raum.
Die Sünden der Vergangenheit werden, wenigstens teilweise, wettgemacht
Man könnte an dieser Stelle zum Schluss kommen, dass die eigentliche Revolution nicht der Raumklang, sondern das Mastering fürs Hören mit Kopfhörer, bzw. den konzentrierten Konsum ist. Das wiederum drängt einem die Einsicht auf, dass 3D-Audio in gewisser Weise die Sünden der Musikproduktion ausbügelt: Die Schäden, die der Loudness War angerichtet hat und heute noch dazu führt, dass Songs auf maximale Lautheit gebügelt werden, wodurch viele Nuancen einfach flöten gehen.
Wie schade das ist, weiss jeder, der sich mit der Sache beschäftigt. Es hätte schon länger die Einsicht reifen können, dass die maximale Dynamik bei der Radioversion vielleicht einen gewissen Sinn ergibt, für die CD-Variante aber nicht – weil es einen riesigen Unterschied macht, ob man mit Billig-Stöpseln oder Radio zuhört oder mit einer teuren Stereoanlage oder High-End-Kopfhörern.
Bleiben noch drei Dinge:
Fixiert oder mit Kopferfassung?
Erstens die zwei Varianten von Raumklang, die es mit Apple Music gibt: Einerseits Fixiert, mit der es einen statischen Mix gibt, andererseits Kopferfassung (Headtracking): Mit dieser Variante reagiert der Mix auf Kopfbewegungen: Dreht man den Kopf, scheinen die Instrumente an Ort und Stelle zu verharren. Das fand ich bei «The Long and Winding Road» von den Beatles eindrücklich, weil es dazu einlädt, sich zur Musik zu bewegen.
Es fühlt sich dann in der Tat ein wenig so an, als würde man mitten im Raum stehen, in dem die Beatles nur für einen selbst spielen. Für Leute, die gerne mit Kopfhörern durch die Wohnung tanzen, ein cooles Feature – das allerdings die Gefahr birgt, dass man mit geschlossenen Augen in ein Möbelstück kracht. Aber gut, sich von Musik mitreissen zu lassen, hatte schon immer gewisse Risiken.
Top oder flop?
Zweitens die Frage, ob 3D-Audio zu einem Erfolg werden wird oder einen Unterschied macht. Für mich ist es ein echter Fortschritt, auch wenn ich es nicht als Revolution bezeichnen würde. Aber ich bin gespannt, was die Musiker daraus machen, wenn sie erst damit anfangen, ihre Produktionen auf Raumklang auszurichten – das ist natürlich noch mal etwas anderes, als vorhandene Aufnahmen auf das spatiale Erlebnis zu trimmen, wie es bislang der Fall ist.
Bei der breiten Masse der Zuhörer erwarte ich keine grosse Resonanz. Das liegt daran, dass wir Konsumenten, wie erwähnt, durch die Loudness-Wars verdorben sind: Wir wurden auf dieses effekthascherische Hörerlebnis getrimmt, bei dem die Nuancen auf der Strecke bleiben. Die differenziertere 3D-Variante dürfte von vielen als weniger eindringlich bzw. vielleicht sogar langweiliger erleben werden. Es ist wie mit den viel zu stark gesüssten Getränken: Wenn man denen entsagt, braucht es eine Zeit der Umgewöhnung, bis man die weniger süssen, aber geschmacklich vielfältigeren Durstlöscher wieder zu schätzen lernt.
Ein Standard wäre vonnöten
Drittens bräuchte es unbedingt einen Standard, sodass man Raumklang-Audio möglichst mit vielen Kopfhörern und über alle Streamingdienste und Download-Angebote hinweg nutzen kann. Das ist bislang nicht der Fall: Bei Apple kommt man nur mit den AirPods Pro, AirPods Max und AirPods der dritten Generation zum Zug, obwohl mein Sony-Kopfhörer genauso 3D-tauglich ist. Das ist eine unnötige Hürde für die Verbreitung dieser eigentlich ziemlich faszinierenden Entwicklung.
Kurzer Einschub: Mit Dolby Atmos, das von Apple verwendet wird, gibt es eigentlich das passende Format, das allerdings proprietär ist – und wenn uns die Geschichte etwas gelehrt hat, dann das: Proprietäre Dateiformate sind, gerade in der Musik zu meiden wie der Teufel das Weihwasser.
Der vielversprechendere Ansatz ist daher IMHO MPEG-H 3D Audio, ein Standard, der vom Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS vorangetrieben wird und auch in Sonys 360 Reality Audio steckt (siehe hier). Welches der beiden Verfahren qualitativ mehr leistet, ist schwer zu entscheiden. Ich würde für Sony votieren, bin aber keine Akustik-Koryphäe. Für uns Nutzer wäre daher Interoperabilität wichtig, sodass niemand Gefahr läuft, sich fürs eine System zu entscheiden, woraufhin sich das andere irgendwann durchsetzt…
Beitragsbild: Dieses Medium auf 3D Audio zu trimmen, wäre aussichtslos. Aber mit digitalen Inhalten ist es technisch keine grosse Sache (Brett Jordan, Pexels-Lizenz).
Hast Du das auch mal mit einem grossen Symphonie-Orchester versucht (so mit hundert Musiker:innen, z.B. Wiener Philharmoniker)? Das denke ich mir schon auch noch spannend, ob und wie da der Unterschied zu hören sei.
So weit bin ich noch nicht in den Katalog vorgedrungen. Aber du hast recht, das müsste die Paradedisziplin sein!
Denke ich auch – ein grosse Symphonieorchester bringt sehr viel „räumlichen Klang“! 🙂