Warum unsere Facebook-Posts uns überleben sollten

Die Beiträge in den sozialen Medien sind längst nicht so flüchtig, wie es den Anschein hat. Und das ist gut so – ich plädiere dafür, dass sie uns alle überleben und zu einer Ressource für unsere Nachfahren werden.

Im Beitrag Eine Zeitkapsel für das Internet habe ich über unser digitales Erbe philosophiert. Ich weiss zwar nicht, ob sich die nachfolgenden Generationen über all die Daten freuen werden, die wir derzeit anhäufen. Vielleicht werden sie sich darüber freuen – vielleicht nicht. Aber da wir diese Entscheidung nicht für sie treffen können, sollte es unser Anliegen sein, möglichst viele von unseren Daten für die Nachwelt zu erhalten.

In diesem Beitrag habe ich nebenbei auch die Bemerkung fallen lassen, dass zukünftige Generationen «dank der sozialen Medien jede Regung ihrer Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern werden erkunden können».

Es lohnt sich, diesen Gedanken auszuloten, finde ich. Denn er widerspricht unserer Wahrnehmung. In der sind soziale Medien etwas überaus flüchtiges: Jetzt gepostet, in drei Stunden vergessen.

Das liegt natürlich in der Natur der Sache. Soziale Medien sind auf die Nutzung in Quasi-Echtzeit ausgelegt. In meiner Analyse zu Twitter Analytics habe ich festgestellt, dass die Halbwertszeit eines Tweets nur in Ausnahmefällen 24 Stunden umfasst.

Bei Facebook ist es ähnlich. Es ist schwierig bis unmöglich, einen Beitrag, der mehr als ein paar Tage alt ist, überhaupt aufzuspüren. Das klappt nur, wenn man viel Geduld hat, um sich durch die Zeitleiste nach hinten zu arbeiten. Oder wenn man sich noch an ein spezifisches Stichwort aus dem Post erinnert, über das man suchen könnte.

Alles noch da

Das heisst aber nicht, dass die Beiträge nicht noch da wären. Sie sind es, wie einem beispielsweise Timehop, die App für gute und schlechte Erinnerungen, vor Augen führt.

Seit ich die sozialen Medien nutze, sind in meinem virtuellen Bekanntenkreis mehrere Leute gestorben. Ihre Posts sind alles, was ich noch von ihnen habe. Manchmal kapiert Facebook, dass der Mensch hinter dem Konto gestorben ist und aktiviert den Gedenkzustand. Bei mindestens einer Person ist das nach bald anderthalb Jahren noch nicht passiert, was zu der makaberen Situation geführt hat, dass ihr nach ihrem Tod noch zum Geburtstag gratuliert worden ist.

Twitter seinerseits hat keinen solchen Gedenkzustand, und keine durchdacht wirkende Strategie, was mit den Konten Verstorbener passiert. In der Hilfe habe ich hier einen Beitrag gefunden, der erklärt, wie Familienmitglieder beantragen, dass der Account eines toten Nutzers deaktiviert wird.

Und ja, die Löschung mag in Einzelfällen angebracht sein. Bei den meisten Fällen verstorbener Nutzer wäre es schade, wenn das Konto verschwinden würde, weil die Tweets für Freunde und Bekannte die Erinnerung lebendig erhalten und eine Art digitaler Nachlass sind. Nichtsdestotrotz ist es wichtig zu wissen, wenn ein Nutzer nicht mehr unter den Lebenden weilt und auch nicht mehr mit der Welt interagieren kann: Der Gedenkzustand von Facebook ist daher wichtig und richtig.

Facebook als Zombieland

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an die leicht gruselige Meldung, die ich 2019 für die Tamedia aufgegriffen habe: Facebook ist auf dem Weg zur digitalen Geisterstadt, hiess die und basierte auf einer Untersuchung von Forschern der Universität Oxford. Sie haben die Wachstumszahlen beim sozialen Netzwerk mit den Sterbeziffern der Vereinten Nationen in Verbindung gebracht und so extrapoliert, dass bis 2100 ungefähr 4,9 Milliarden Kontoinhaber gestorben sein werden. Das heisst, dass es in knapp 80 Jahren so viele tote wie lebende Nutzer gäbe.

Die Forscher der Universität Oxford haben damals eine breite Diskussion um diese digitale Erbschaft gefordert. Die hat bislang nicht stattgefunden.

Und auch der Vorschlag, man müsse dieses Archiv, entsprechend würdigen ist ohne Nachhall geblieben. Denn was Facebook da sammelt, ermöglicht einen einzigartigen Einblick in das menschliche Verhalten und unsere Kultur, weswegen dieser Bestand nicht einer einzigen, gewinnorientierten Firma überlassen werden sollte. Stattdessen müssten sich Historiker, Archivare, Archäologen und Ethiker damit beschäftigen, lautete die Forderung.

Damit bin ich hundertprozentig einverstanden. Meine Vision für die sozialen Medien sieht wie folgt aus: Nach einer gewissen Zeit sollten die Veröffentlichungen von uns allen, die wir bei Twitter, Facebook, Linkedin und meinetwegen sogar bei Reddit, Myspace und Tumblr gepostet haben, in den Besitz der Allgemeinheit übergehen.

Die Allgemeinheit ist Alleinerbe

Das könnte nach Ablauf der Regelschutzfrist, also dann, wenn das Urheberrecht ausläuft. In der Schweiz sind das 70 Jahre nach Ablauf des Todesjahres, was für meinen Geschmack zu lange ist. Diese Dauer schützt die Interessen der Erben, die das Glück hatten, von einem erfolgreichen Urheber abzustammen und auch Jahrzehnte nach dem Tod noch dicke Tantiemen einstreichen. Das liesse sich stark verkürzen, zum Beispiel auf dreissig Jahre.

Nun kann man sich des Langen und Breiten ausmalen, in welcher Form die Posts der Verblichenen der Menschheit zur Verfügung gestellt werden würde. Meine Vorstellung wäre ein riesiges Menschheitsarchiv analog zu archive.org, wo jeder Interessierte Daten ansehen und recherchieren und auch im grossen Stil und in maschinenlesbarer Form abziehen darf. Diese Daten darf jeder mit allen Mitteln von Big Data analysieren und kompilieren. Ich bin sicher, dass das tiefe Einblicke in die Psyche und Verfassung unserer Generation ermöglichen würde.

Und noch ein anderer Gedanke ist mir gekommen. Stellen wir uns eine neue Regel für die Nutzung von sozialen Netzwerken vor: Nach der hätten wir Nutzer weiterhin die Möglichkeit, einzelne Posts zu löschen oder unser Konto zu deaktivieren. Nur würde die Abmachung aber besagen, dass gelöschte Posts und deaktivierte Konten zwar unmittelbar nicht mehr zugänglich wären, aber nach der ausgehandelten Zeitdauer nach unserem Tod an die Allgemeinheit übergeben werden.

Will man als Troll dastehen?

Mit anderen Worten: Man kann seine Posts zwar in der Gegenwart zum Verschwinden bringen, doch nicht aus dem posthumen Archiv entfernen: Das bleibt den Nachkommen auf jeden Fall erhalten, egal wie unangenehm oder peinlich das für uns auch sein mag.

Ich glaube nun nicht, dass diese Regel den Trollen das Handwerk legen und jeglichen Unsinn aus den sozialen Medien zum Verschwinden bringen würde. Aber ich bin überzeugt, dass es einen disziplinierenden Einfluss hätte, wenn wir nicht mehr mit dem Gefühl posten, dass auch der hässlichste Tweet und der unbedachteste Facebook-Eintrag nach zwei Wochen verschwunden ist – sondern, dass genau diese Beiträge es sein könnten, die das Bild prägen, das die Nachwelt von uns hat.

Denn ja: Die meisten von uns machen sich nicht allzu viele Gedanken, wie uns unsere Urenkel wahrnehmen werden – und ob sie überhaupt an uns interessiert sein werden. Aber die Vorstellung, dass sie über irgend ein dummes Geschwätz stolpern und zur Erkenntnis gelangen könnten, dass Urgrossvater ein ignoranter Facebookrandale oder Grossmutter eine toxische Hasstweeterin war, wäre uns wahrscheinlich trotz allem sehr unangenehm. Darum wäre dieses Projekt nicht nur ein Segen für die Nachfahren, sondern auch für die aktuelle Generation.

Beitragsbild: Auch wenn wir schon unter der Erde liegen – was wir zu Lebzeiten in unsere Tastaturen getippt haben, soll sichtbar bleiben (Giuseppe Patriarchi, Unsplash-Lizenz).

2 Kommentare zu «Warum unsere Facebook-Posts uns überleben sollten»

  1. „ einzigartigen Einblick in das menschliche Verhalten und unsere Kultur“

    Memes, Gifs, Spruchbilder, Vermisstenmeldungen, „Teile das, wenn …“, Spielstände, etc.

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