Fitness-Gadgets, die Leistungsdruck erzeugen

Wehe, wenn man einen einzigen Tag auf der faulen Haut liegt – dann ist gleich der «Streak» dahin. Warum das Unfug ist.

In diesem Podcast hier habe ich von einem Phänomen namens Streak Running gehört. Die Streaker gehen täglich rennen und halten damit den Streak, also die Strähne am Laufen.

Meine Spontan-Vermutung war, dass es sich um einen brandneuen Trend handelt, der auf dem Mist der Fitnesstracker und der Smartwatches mit Sportfunktionen gewachsen ist. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie einem immer anzeigen, wie lange der Durchhaltewillen beim Erreichen der Tagesziele anhält. Die Apple Watch beispielsweise verkündet jeden Abend: «Längste Bewegungsserie – deine aktuelle Serie beträgt 179 Tage».

Nun hat mich Wikipedia darüber aufgeklärt, dass das «Streaking» nicht so neu ist wie vermutet. Die Vereinigung wurde 2000 gegründet. Der ausdauerndste Streaker ist gemäss dem Lexikon ein Mann namens Robert C. Ray, «der seinen aktuell immer noch gültigen Streak am 4. April 1967 startete und seitdem keinen einzigen Tag lauffrei geblieben ist».

Wenn die Strähne so lange wird, dass sie nicht mehr abreissen darf

Um Robert C. Ray zu schlagen, fehlen mir nur noch gut 18’300 Tage in meinem Streak.

Tobi Bayer hat in sich im eingangs erwähnten Podcast aus­ge­führt, dass er selbst «streakt», obwohl er es für eine fragwürdige Idee hält.

Und ich bin keinen Dreck besser.  Ich habe in meiner Garmin-App nachgesehen und festgestellt, dass dort meine Strähne für mein Schrittziel seit 1172 Tagen anhält. Damit bin ich nicht ganz so abartig unterwegs wie Robert C. Ray, dessen Serie nun schon 19’500 Tage dauert. Keine Frage: Er freut sich schon, dass in etwa anderthalb Jahren die 20’000 voll werden.

Es kann gar nicht anders sein, als dass Ray sich in dieser Zeit auch mal mit Fieber, einem gebrochenen Zeh oder Bauchschmerzen auf seine Strecke begeben hat. Oder dass er abrupt ein geselliges Treffen mit Freunden oder der Familie verliess, um sich in die Sportschuhe zu stürzen. Vorstellbar ist sogar, dass er nicht am Sterbebett eines nahen Menschen verweilen konnte, weil der Streak sonst abrupt zu Ende gewesen wäre – aber ich will Robert C. Ray nichts unterstellen; ich kenne ihn nämlich nicht.

Der Trugschluss der versunkenen Kosten

Ich frage mich, ob man die Theorie der Sunk Costs anwendbar sind: Die besagt, dass unrentable Aktivitäten fortgesetzt werden, weil man viel investiert hat – selbst wenn die rationale Entscheidung sein müsste, sofort aufzuhören. Als Streaker hat man viel Zeit und Energie in seine Erfolgsserie gesetzt, und täglich wird die Investition grösser. Also will man sie nicht wegen einer Banalität beenden. Es müsste mindestens ein Beinbruch sein, der die Strähne stoppt. Ob es sinnvoll ist, mit 39 Grad Fieber bei strömendem Regen seine Schritte zu laufen, bleibt ausser Betracht.

Nein, es ist natürlich nicht so, dass die Fitness irreparablen Schaden nimmt, wenn man sein Schrittziel einmal einen Tag nicht erreicht. Im Gegenteil – viele Leute, die ihre sportlichen Aktivitäten ernsthaft betreiben, werden einen solchen Ausfall bei nächster Gelegenheit eher überkompensieren. Die Gefahr ist da, dass man sich überfordert und überanstrengt. Und ausserdem ignoriert diese Streak-Sichtweise, wie menschlich es ist, auch mal einen Durchhänger zu haben.

Intrinsische Motivation wäre gefragt

Und ja: Die Motivation sollte von innen kommen – und nicht durch eine App, die einem vor Augen führt, dass man nach 19’500 Tagen von vorn anfangen müsste, wenn man einen einzigen Tag nicht in die Pötte kommt. Doch als Anwender ist man ein Gefangener dieser Metrik. Und darum sagt man sich wider jede Vernunft, dass heute nicht der Tag ist, an dem die Strähne reisst. Und es geht weiter, auch wenn null Motivation vorhanden ist.

Ich denke, man müsste das Streak-Prinzip revidieren. Einzelne Aussetzer sollten gestattet sein. Wie die Joker-Tage in der Schule – oder mit begründeten Dispensationen. Denn wenn einer einen Blinddarmdurchbruch erleidet, sollte er die Möglichkeit haben, den Streak zu unterbrechen: Wegen höherer Gewalt bekommt man auch sonst im Leben eine Dispensation.

Besonders ärgerlich übrigens, wenn die Strähne abbricht, weil der Akku leer war und eine erbrachte Leistung nicht gezählt wurde. Mir wäre das einmal fast passiert – sodass ich Vollidiot mitten in der Nacht noch einmal 7000 Schritte runtergerissen habe.

Oder, als radikalere Idee: Warum also nicht ganz auf die Zählung der fortlaufenden Tage verzichten? Man könnte auch einen Schalter anbieten, der es Leuten erlaubt, sich beispielsweise auf den Durchschnitt zu konzentrieren? Wenn der gleitende Mittelwert einigermassen konstant bleibt oder steigt, erhält man Lob. Wenn er sinkt, gibt es Tadel: So würde der übertriebene Leistungsdruck wegfallen.

Generell müssten die Uhren und Fitness-Apps mehr auf die unterschiedlichen Temperamente Rücksicht nehmen. Phlegmatiker brauchen externen Antrieb; Ehrgeizlinge und kompetitive Naturen sollten eher gebremst werden. Und es wäre auch gut, wenn auf die Lebenssituation Rücksicht genommen würde: Wenn man jobmässig voll gefordert ist, braucht man nicht auch noch eine Uhr, um halb neun Uhr morgens herumpöbelt, weil die Ringe noch nicht geschlossen sind…

Siehe dazu auch: Das Leben (und Apple-Watch-Wettbewerbe) sind nicht fair und  Apple kann nicht gut rechnen. Aber umso besser uns Nutzer plagen.

Nachtrag

Dominik gibt auf Facebook einen Lifehacker-Tipp: Man kann natürlich auch das Tagesziel dynamisch anpassen, wenn man keine Lust hat: Also: 10 Schritte statt 10’000. Aber man wird dem schlechten Gewissen leben müssen…

Beitragsbild: Im Knast zählen sie auch die Tage – allerdings rückwärts und mit einem endgültigen Ziel (Emiliano Bar, Unsplash-Lizenz).

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