Nach den Wearables dann die Implantables

In «Feed» von M.T. Anderson hat ein Grossteil der Menschheit neuronalen Anschluss ans Internet. Das macht Online-Werbung zu einer noch übergriffigeren Angelegenheit – und das Leben für Jugendliche zur Herausforderung.

In diesem Blog ist in letzter Zeit häufig das Wort Feed gefallen. Auch heute ist das wieder der Fall. Doch während es meistens um RSS ging, kommt heute völlig überraschend die Rubrik Nerdliteratur zum Zug. Das Thema hier: Das Buch Feed von M.T. Anderson (Amazon Affiliate), das es leider anscheinend nicht in einer deutschen Übersetzung gibt.

Ich habe das Buch für meinen Tagi-Artikel Vier Bücher für den Durchblick im digitalen Zeitalter ausgesucht. Die anderen drei sind NSA und The Circle, die ich beide hier im Blog schon besprochen habe, plus Fahrenheit 451, das ich für eine ausführliche Rezension hier erst noch einmal lesen müsste. Obwohl es ein Buch für junge Erwachsene ist, passt es ausgezeichnet in die Reihe: Es erklärt ein Phänomen in fiktionalisierter Form besser, als das ein Sachbuch oder ein Erklärstück könnte.

Klar, der Einwand auf diese Behauptung liegt auf der Hand:  Es geht in «Feed» um eine Technologie, die noch nicht existiert – und die dementsprechend auch nicht journalistisch oder wissenschaftlich aufgearbeitet werden kann. In Feed besitzt ein Grossteil der Bevölkerung einen direkten Anschluss an das Feednet. Das ist ein Datennetz, das direkt an die Synapsen andockt. Es ist viel weiter fortgeschritten als das Internet, wie wir es kennen. Doch es viel mit ihm gemeinsam: Es liefert nämlich eine Datenflut, die von so einem kleinen menschlichen Gehirn nur schwer zu bewältigen ist.

Ein Informations-Überangebot, das die Leute abstumpfen lässt

Die Einsichten, die das Buch liefert, beziehen sich nicht auf Implantate und zukünftige Benutzerschnittstellen, die Smartphones und Wearables überflüssig machen. Es zeigt aber hervorragend auf, was ein Überangebot an Informationen auslöst: Leute stumpfen ab und soziale Interaktionen werden zu einer ziemlich seltsamen Angelegenheit.

Und natürlich ist «Feed» sozialkritisch: Die jugendlichen Protagonisten sind nicht unbedingt so, dass man viel Hoffnung für die Zukunft hätte. Die ist zwar nicht ganz so deprimierend wie in Idiocracy. Aber als Höhepunkt der Zivilisation würde man die Phase auch nicht bezeichnen: Die Umwelt scheint endgültig verloren zu sein. Es geht bergab mit der Nation; die USA sind in irgendwelche Konflikte mit dem Rest der Welt verstrickt.

Der US-Präsident, Trumbull, ist ein ziemlicher Dummkopf

Der Präsident ist ein ziemlicher Dummkopf, der Beleidigungen ausstösst und die nachher schönzureden versucht. Lustiges Detail am Rand: Das Buch ist 2002 erschienen, doch der Autor hatte die Weitsicht, seinen Präsidenten Trumbull zu nennen.

Der deplorable Zustand des Landes und der Welt kümmert nur wenige. Da ist nämlich das Feednet, das ständige Werbebotschaften in die Köpfe der Leute pumpt. Es liefert von sich aus Vorschläge, wie man denn sein Geld ausgeben könnte und jene Leute, die am Feednet angeschlossen sind, können sich diese Konsumorgien offensichtlich auch leisten. Der Kapitalismus hat vor nichts Halt gemacht und die Demokratie in eine Korporatokratie (Corporatocracy) verwandelt. Die Schüler merken das daran, dass sie nicht mehr in die Schule, sondern in die School™ gehen (im Hörbuch «School Inc.» genannt).

Zur Abwechslung ein Mondtrip

Der Ich-Erzähler heisst Titus. Er hängt mit seiner Gang ab, die aufzeigen, was diese Gesellschaft unter Freundschaft versteht. Man hängt miteinander ab, spielt Mixed-Reality-Spiele, nimmt Drogen und macht auch mal einen Trip zum Mond. Doch wegen des Feeds gestaltet sich das mit den menschlichen Kontakten schwierig: Nie ist man mit jemandem allein. Die anderen sind immer da, können Botschaften schicken oder einen per Chat ansprechen. Das erinnert natürlich an die Leute, die ihr Smartphone selbst beim Tête-à-Tête nicht weglegen können. Nur, dass es noch viel schlimmer ist.

Das Feednet liefert nämlich auch Unterbrecherwerbung. Das ist im Hörbuch eindrücklich: Die recht aufwendig produzierten Spots unterbrechen die Geschichte immer mal wieder in unpassenden Momenten. Das ist übergriffig, selbst wenn wir uns das heute vom Werbefernsehen gewohnt sind. (Zumindest die Leute, die noch werbefinanziertes Fernsehen schauen.)

Das Präkariat bleibt neuronal offline

Die Handlung ist einigermassen unspektakulär: Bei einem Ausflug auf den Mond lernt Titus Violet Durn kennen. Die weckt sein romantisches Interesse. Sie ist anders als seine dumpfbackigen Freunde. Das liegt daran, dass sich Violets Familie das Implantat eigentlich nicht leisten konnte. Sie hatte in den ersten Jahren ihres Lebens keines gehabt und es erst mit sieben Jahren erhalten, weil ihr Vater eingesehen hat, dass sie ohne keine Chance auf einen Job und ein richtiges Leben hat.

Violet hat sich darum nicht ganz vereinnahmen lassen: Sie hat sich das Revoluzzertum bewahrt, das man von Menschen ihres Alters eigentlich erwartet. Sie kritisiert den Konsumismus, die Umweltzerstörung und die Überwachung und Profilierung im Feednet.

Bei einem Ausflug auf den Mond geraten die Jugendlichen an einen Hacker. Per Berührung infiltriert er das Implantat und lässt die Jugendlichen in einer Art Delirium verfallen. Der Hacker wird gestellt und von der Polizei gleich vor Ort beseitigt. Doch die Jugendlichen müssen ins Spital, weil mögliche Fehlfunktionen des Feednet offensichtlich eine medizinische Angelegenheit sind. Sie müssen erst einmal ohne Feed auskommen, was eine verstörende Erfahrung ist.

Die Folgeschäden des Hackerangriffs

Nachdem die Ärzte es für sicher halten, das Feednet wieder zu aktivieren, geht das Leben weiter wie zuvor. Ausser bei Violet. Sie trägt Folgeschäden davon. Das liegt daran, dass sie das Implantat nicht schon als Neugeborenes bekommen hat. Womöglich ist auch das Implantat selbst schuld. Ihr Vater konnte sich nämlich nur ein billiges leisten.

Dann geht es bergab mit Violet. Sie darf nicht auf Hilfe hoffen. Sie hat in ihrem jugendlichen Aufbegehren die Daten ihres Konsumentenprofils vorsätzlich verunreinigt, indem sie für unzählige Produkte Interesse signalisiert und nie etwas gekauft hat. Darum wird sie nun nicht als wertvolle Konsumentin wahrgenommen.

Mit dieser Situation kann Titus nicht umgehen, und als es zum Unvermeidlichen kommt, reagiert mit einer Frust-Shopping-Eskapade von epischem Ausmass. Das Buch endet mit dem plakativen Satz «Everything Must Go», der sich im Werbespot auf einen Ausverkauf, aber natürlich auch auf die menschliche Existenz bezieht.

Der Stil ist wichtiger als die Handlung

In der Zusammenfassung liest sich das alles etwas platt und so wenig originell wie absehbare Gesellschaftskritiken häufig sind. Das Buch lebt aber weniger von der Handlung als vielmehr vom Stil – und der ist wirklich bemerkenswert. M.T. Anderson hat schnoddrige Jugendsprache geschaffen, die hervorragend zu seinen Figuren passt. (Soweit ich das beurteilen kann, der US-Amerikanisch nicht als Muttersprache hat.)

Das Hörbuch ist wie erwähnt toll produziert, indem die Werbespots wie echt wirken. Und auch der Sprecher, David Aaron Baker, macht einen wunderbar überzeugenden Job, den Jugendlichen eine Stimme zu verleihen. Und mir gefällt die Darstellung eines Kapitalismus im Endstadium, der es geschafft hat, selbst eine grossartige Menschheitserfindung wie das Internet in eine Konsumtravestie zu verwandeln. Das soll uns daran erinnern, diesem Internet Sorge zu tragen.

Wer mehr Interesse an einer rasanten, spannenden und abwechslungsreichen Geschichte mit Kommunikationsimplantaten hat, dem sei die Black Out-Hide Out-Time Out-Trilogie von Andreas Eschbach empfohlen, die ich im Beitrag Mark Zuckerbergs feuchter Traum ausführlich besprochen habe.

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