Steampunk minus Punk, plus Bakelit und Nazis

«NSA – Nationales Sicherheits-Amt» von Andreas Eschbach: Was, wenn die Nazis das Cloud-Computing erfunden hätten?

Heute bespreche ich das beste Buch, das ich seit langem gelesen habe. Genau das richtige Buch zur rechten Zeit, lautet das Fazit, wenn man es in sieben Worten (und 41 Zeichen) zusammenfassen müsste. Es handelt sich um NSA – Nationales Sicherheits-Amt (Amazon Affiliate) von (vielleicht nicht ganz überraschend) Andreas Eschbach.

Das Buch zeigt drei Dinge. Erstens führt es vor Augen, was ein faschistischer Staat mit moderner Massenüberwachungstechnologie anstellt: Mit gespeicherten Positionsdaten von Mobiltelefonen, persönlichen Mails, finanziellen Transaktionsdaten, aufgezeichneten Telefonanrufen, digitalen Patientenakten, Terminen in der Cloud. Und mit Gesichtserkennung und neuronalen Netzen – wenn Doktor Mengele auf künstlicher Intelligenz trifft. Nun könnte man sagen, dass das eine triviale Erkenntnis ist: Natürlich missbraucht der faschistoide Staat alle diese Mittel. Selbstverständlich werden sie dazu verwendet, Dissidenten aufzuspüren, zu verfolgen, zu beseitigen. Niemand darf sich wundern, wenn ein falsches Wort in der Öffentlichkeit dazu führt, dass die Geheimpolizei an die Türe klopft. Respektive diese eintritt.

Doch Eschbach zeigt auch auf, wie ungehinderter Zugang zu persönlichen Daten auch arglose Leute korrumpiert. Die beiden Hauptpersonen im Buch, Helene Bodenkamp und Eugen Lettke, sind beide kleine Nummern im Nationalen Sicherheits-Amt. Sie wissen zwar, dass sie die gesammelten Daten nicht für private Zwecke verwenden dürfen: So steht es im Arbeitsvertrag und Zuwiderhandlungen sind ein Kündigungsgrund. Doch überwacht werden die Überwacher scheinbar nicht. Und so passiert das Unvermeidliche eben: Helene spürt ihrer Freundin nach und verwendet ihre Möglichkeiten, um Opfer zu schützen. Und Lettke treibt seinen privaten Rachefeldzug voran und verschafft sich Macht über andere und persönliche Befriedigung.

Der Missbrauch im Kleinen

Dieser Missbrauch im Kleinen – sogar, wenn er für das Gute passiert – ist überraschend und einleuchtend zugleich. Und er macht den Missbrauch im Grossen umso erschreckender.

Zweitens zeigt Eschbachs Buch auf, dass das Genre der Alternate History nicht besonders «einfach» ist, wie ich immer vermutet habe, sondern besonders schwierig. Ich habe es für einfach gehalten, weil man sich als Autor die Fakten so zurechtbiegen kann, wie man sie für eine spannende Geschichte braucht. Charles Babbage hat die Analytical Engine tatsächlich gebaut? So sei es! Doch das allein reicht eben nicht für eine spannende Geschichte – siehe Babbage hätte etwas Besseres verdient. Man muss etwas Interessantes damit anstellen: Etwas, das Bedeutung und Konsequenzen hat.

Und das macht Eschbach: Er lässt die Nationalsozialisten in den Besitz moderner Informationsverarbeitungstechnologie kommen. Man weiss nicht genau, wie weit im Vergleich diese Technik vorangeschritten ist. Und natürlich wurde die Technik auch nicht eins zu eins einfach um gut hundert Jahre nach vorn verlagert. Denn bei diesem Verlauf der Dinge waren nicht die Amerikaner federführend, sondern das deutsche Kaiserreich – auch wenn Eschbach nicht erklärt, wie die Deutschen den Engländern ihren Wettbewerbsvorteil abgenommen haben. Die Technik könnte man vielleicht mit der Formel Steampunk minus Punk, plus Bakelit umschreiben.

Siemens statt IBM

Jedenfalls hat sich Eschbach Mühe gemacht, die Begriffe und Konzepte zu adaptieren und sich auszumalen, wie die Computertechnik ausschaut, wenn nicht IBM und Intel federführend gewesen wären, sondern Siemens und deutsche Ingenieure. Das Standardhandy ist natürlich das Volkstelefon (Votel), und SQL heisst «Strukturierte Abfragesprache». Da kommt der Nerd ausreichend auf seine Rechnung und auch als technisch Unbeleckter hat man keine Mühe mit dem Jargon.

Die Computer (oder Komputer, wie sie im Buch geschrieben werden) bewegen sich, meinem Gefühl nach, leistungsmässig etwa auf dem Niveau meines ersten Computers. Das war ein 368er; schon beim Kauf viel zu langsam, aber immerhin ein echter Computer. Sie stecken in Holzgehäusen und sind riesig. Ob es grafische Benutzeroberflächen gibt, ist mir nicht ganz klar geworden. Eine Maus ist jedenfalls nie beschrieben. Die Mobiltelefone jedenfalls haben Tasten und erinnern in der Beschreibung an in der Entwicklung stecken gebliebene Nokia-Modelle der ersten Generationen. Doch es gibt sie für gutbetuchte Kunden mit Farbdisplay und, ganz Apple-like, auch in Gold. Das Internet scheint sich sogar schon früher angebahnt zu haben. Es heisst Weltnetz und ist nicht ganz so offen wie (trotz allem) bei uns. Und die Cloud ist der Standard – kein Wunder in einem Überwachungsstaat. Der Normalfall ist, seine Daten in einem Datensilo zu speichern. Wer eine eigene Datenhaltung betreibt, macht sich verdächtig, und entsprechend sind Speichermedien streng reglementiert.

In den Datensilos sind die Informationen unverschlüsselt abgelegt. Die Tagebuch-App macht zwar ein Brimborium darum, die Einträge mit einem Passwort zu schützen. Aber das regelt nur den Zugang. Die Leute des Nationalen Sicherheits-Amts können die Einträge nach Belieben durchforsten. Und das tun sie dann auch. Und da die Nationalsozialisten so klug waren, das Bargeld abzuschaffen und die Leute dazu zu bewegen, mit den Votels zu bezahlen, werden Haushalte auch finanziell komplett transparent. Und das ist in einem Überwachungsstaat ein unbezahlbares Feature.

Programmieren ist Frauensache

In Ehren an Ada Lovelace, die die Programmiersprache für die Analytical Engine geschrieben hat, ist das Programmieren Frauensache. In einer Gesellschaft, die bis zum Sexismus patriarchal ist, wird das «Stricken von Code» als Frauensache betrachtet. Männer sind hingegen Analytiker und lassen sich ihre Abfragen vom weiblichen Hilfspersonal fertigen. Die heissen Programmstrickerinnen und haben vom grossen Ganzen keine Ahnung. So glaubt Helene Bodenkamp, der Staat interessiere sich für den Versorgungszustand der Bevölkerung, als sie die Kalorienversorgung der Haushalte analysiert. Doch das Wohlbefinden der Bevölkerung ist Heinrich Himmler herzlich egal: Man kann mit solchen Analysen herausfinden, welche Haushalte Leute verstecken.

Drittens muss eine Geschichte wie diese nicht nur etwas Sinnvolles mit ihrem alternativen Verlauf der Weltgeschichte anzufangen wissen. Sie muss diesen Verlauf auch stimmungsvoll und glaubwürdig zu erzählen wissen. Viele Autoren von Alternate Historys kommen auf die Idee, eine Geschichte mit Nazis zu erzählen. Zu viele – das ist, nebst JFK, eines der Standard-Szenarien. Zum Beispiel, hier besprochen, Jonathan L. Howard mit «Carter & Lovecraft». Doch diese Nazis bleiben Pappkameraden. Sie erschrecken einen nicht und erwecken das Tausendjährige Reich erzählerisch nicht zum Leben. Ich will nun nicht so weit gehen und behaupten, dass man ein Deutscher sein muss, um die Nazis glaubwürdig auferstehen zu lassen. Doch es hilft.

Und das meine ich nun überhaupt nicht zynisch. Nein, denn es geht um die Sprache, um das Gefühl und darum, dass man als Autor das Gefühl zulässt, dass in den 1930er-Jahren Hitler für manche tatsächlich ein Hoffnungsträger war. Noch bevor die KZs überhaupt nur ein böses Gerücht waren und weil die meinsten Leute «Mein Kampf» nicht gelesen hatten, konnte dieser Hitler zum Alltag ganz normaler Familien gehören. Helene jedenfalls ist nicht zur Widerstandskämpferin geboren. Sie hat einen Bruder, der für die Wehrmacht kämpft und fällt und einen Vater, der als Arzt im dritten Reich Karriere macht. Und sie lebt in einem gut betuchten Haushalt und ist zwar irritiert, dass wie ihre Freundin Ruth behandelt wird. Sie ist zwar reformiert, doch ursprünglich jüdisch und muss in der Klasse hinten sitzen. Doch hätten wir uns als Teenager allzusehr gegen solche Verhältnisse aufgelehnt?

Eschbach trifft, so weit ich das beurteilen kann, den Ton genau. So gut, dass man sich zwischendurch fragt, wie gut einem das selbst gefallen hätte: Diese gemütliche Situation, wo die Weltanschauung so klar, eindeutig und widerspruchslos ist: Die Herrenrasse ist nicht zufällig die Herrenrasse, sondern genetisch klar überlegen. Bin ich Genetiker, um das in Frage zu stellen? Natürlich, man hat den Verdacht, dass man als Angepasster oder Mitläufer ständig damit beschäftigt gewesen wäre, die auf Gerechtigkeit pochende innere Stimme zum Schweigen zu bringen.

Stiller Kampf mit offenem Ausgang

Wie dieser stille Kampf in meinem Fall ausgegangen wäre, wage ich nicht zu sagen. Ich rede mir gerne ein, dass ich niemals gutgeheissen hätte, was nicht gutzuheissen ist. Andererseits weiss jeder um die Dehnbarkeit des eigenen Gewissens. Jedenfalls ist offensichtlich, dass die äusseren Umstände eine grosse Rolle spielen, welche Seite beim inneren Kampf im Vorteil ist – je nachdem, wie gross oder klein gerade die eigenen Vorteile sind, die man aus der politischen Lage zieht.

Diese Fragen stellt man sich bei der Lektüre unweigerlich, aber ohne dass es eine quälende oder selbstzerfleischende Lektüre wäre. Im Gegenteil: «NSA – Nationales Sicherheits-Amt» ist spannend und bewegend. Helene eine überaus sympathische Hauptfigur und Lettke ein Kotzbrocken, dessen Schicksal einen dennoch nicht kaltlässt. Und was die dramatischen Wendungen angeht, hätte ich eine Wette hochkant verloren, wenn ich sie am Anfang der Lektüre eingegangen wäre: Ich hätte nämlich gewettet, dass Hitler garantiert keinen Auftritt im Buch hat. Als vernünftiger Autor lässt man die Finger davon: Die Fallhöhe ist gigantisch und die Gefahr riesig, dass man unfreiwilligen Klamauk betreibt. Doch Hitler tritt auf und scheisst ziemlich glaubwürdig die Crème de la Crème der deutschen Physikerzunft zusammen. Ein Höhepunkt!

Nebenbei auch ein gelungener Thriller

Mit anderen Worten: Das Buch funktioniert auch als Thriller. Und ohne zuviel zu verraten: Auch das Ende überzeugt. Darum wie gesagt, für mich das Buch des Jahres oder des Jahrzehnts. Ob man von einem Jahrhundertroman sprechen kann und soll, ist jetzt noch nicht zu sagen. Die Anlagen dazu sind jedenfalls vorhanden, wo das Buch einen dazu zwingt, im Hier und Jetzt eine Lehre aus der Geschichte zu ziehen.

Was das Ende angeht, lässt einen der Titel mit der Anspielung an die National Security Agency eine Parodie oder sogar eine Groteske vermuten. Die gibt es mitnichten. Es wird schon bald klar, dass es kein Ende geben wird, weil es kein Happy End geben kann. Ich habe mir natürlich Überlegungen gemacht: Wie wäre es, wenn Helene ihre Position nutzen würde und der KI, die gerade entsteht, ein moralisches Gewissen einpflanzt? Das könnte den Lauf der Dinge doch zum Guten wenden? Aber natürlich weiss der Autor, dass es seine Botschaft schwächt, wenn am Schluss die Hacker, also die Guten gewinnen – so sehr man es den Hackern auch wünschen würde.

Braucht es hier noch eine inhaltliche Zusammenfassung, mit den üblichen Spoilern? Nur kurz, finde ich, denn eigentlich sollte jeder das Buch lesen. Wir begleiten Helene und Lettke durch die Jugend und beim Einstieg ins Berufsleben. Beide werden beim Nationalen Sicherheits-Amt angestellt. Für Helene ist das Zufall, weil sie für Haushaltskunde und Krankenpflegen keine Neigung hat und das Programmstricken ein willkommener Ausweg bietet.

Lettke hingegen hat eine Neigung fürs Spionieren und einen Hang, Wissen in Macht zu verwandeln: Er erpresst Frauen mit den Informationen, die er über sie gefunden hat, für sexuelle Gefälligkeiten. Er kommt auf die Idee, als er von seinen jugendlichen Kameraden, mit denen er in Wohnungen einbricht, in einem Ritual gedehmütigt wird. An dem nehmen auch junge Frauen teil, und die will Lettke bestrafen.

Helene ihrerseits wird gezwungenermassen zur Widerstandskämpferin, als sie sich in Arthur verliebt, einen jugen Soldaten, der Augen so blau wie blühender Lavendel hat. Arthur desertiert, und Helene versteckt ihn mit Hilfe ihrer Freundin Marie und deren Mann Otto. Doch wegen der Analysen im NSA ist Arthur ständig in Gefahr entdeckt zu werden. Helene kann anfänglich das Schlimmste vermeiden. Doch am Schluss hilft nur ein Pakt mit dem Teufel, beziehungsweise eine Ehe mit Ludolf von Argensleben. Der ist so arg, wie der Name sagt und ausserdem ein hohes Tier im Staat.

Weil er dringend auf der Suche nach einer Frau ist und mit dem Auslandspionagedienst zu tun hat, ist er in der Lage, Arthur auf dem Weg seiner Spione ausser Landes zu schaffen. Helene erduldet dafür ein Leben, in dem sie Tisch und Bett mit Argensleben teilen muss. Zumindest für eine gewisse Zeit. Als sich die Chance nach Flucht ergibt, ergreift sie sie. Doch sie kommt nur bis Rotterdam, weil ein System mit Gesichtserkennung, an dem sie selbst mit gestrickt hat, sie am Bahnhof in Berlin entdeckt. Argensleben nimmt sie zurück, doch sie hat keine Kraft mehr für die Unterwerfung. Sie schreibt eine Schmährede auf Hitler ins «Deutsche Forum», worauf die SS sie abholt und ins KZ steckt. Doch auch dort bleibt sie nicht. Sie erhält am Schluss einen Chip in den Kopf implantiert, der die Liebe zum Führer elektronisch entflammt.

Aufgeflogen

Lettke ist ebenfalls aufgeflogen, weil die Überwacher anders als erwartet doch überwacht werden. Nach einem missglückten Selbstmordversuch bleibt ihm das Leben in einem Pflegeheim. Und als Samenspender für den Verein Lebensborn. Das deutsche Reich gewinnt den Krieg, und zwar dank Lettke und Helene. Die haben auf dem Server einer amerikanischen Uni die Informationen zur Atomspaltungsbombe entdeckt, die Bedeutung erkannt, Moskau und London ausradiert und einen Frieden nach deutschem Diktat herbeigeführt.

Bilder: presseportal.de, Wikipedia, CC0

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