Eine Tote, die acht Jahre später noch Lebenszeichen zeigt

Acht Jahre, nachdem ich meinen Job als Brief­kasten­onkel bei der «Kummer­box» an den Nagel gehängt habe, kommen immer noch Fragen von Leser­innen und Lesern. War das damals ein Feh­lent­scheid?

Es kommt vier-, fünfmal im Monat vor, dass ich schmunzle und mich gleichzeitig wundere: Nämlich dann, wenn mir über meine geschäftliche Mailadresse ein Computerproblem unterbreitet wird.

Denn für derlei Anliegen bin ich seit mehr als acht Jahren nicht mehr zuständig. Die «Kummerbox» war die Rubrik beim «Tagesanzeiger», in der ich Computer-Fragen unserer Leserinnen und Leser beantwortet habe¹. Sie ist im Frühjahr 2015 verblichen. Gibt es tatsächlich Leute, die das bis heute nicht gemerkt haben?

In den ersten zwei, drei Jahren war das erstaunlich oft der Fall: Ich erklärte mir das so, dass das vor allem Leute waren, die den «Tagi» nicht mehr abonniert hatten, aber die E-Mail-Adresse noch wussten². Danach nahmen die Mails überhand, in denen die Leute ihr Bedauern über das Ende der Kummerbox ausdrückten und schrieben, sie wüssten ja, dass ich «eigentlich» keine Fragen mehr beantworten würde. Aber vielleicht könne ich liebenswürdigerweise in ihrem speziellen Fall eine Ausnahme machen.

Heute erreichen mich Mails meistens ohne Begründung und Bezug zur «Kummerbox». Sie stammen von Menschen, die festgestellt haben, dass ich in der Tat meistens eine Ausnahme mache³ und sich des informellen Charakters dieses Austauschs bewusst sind.

Der heisse Draht zur Leserschaft

Doch auch wenn sie heute selten sind, gibt es auch heute noch ab und zu Erkundigungen von Leuten, die das Ende der Kummerbox nicht mitbekommen, es wieder vergessen oder verdrängt haben – oder so tun, als ob wir noch im Jahr 2015 leben würden. Das ist irritierend, seltsam und rührend zugleich.

Natürlich dieses erstaunliche Fortleben eine Frage auf: War es ein Fehler, die Kummerbox damals einzustellen?

Die naheliegende Antwort ist: natürlich, klar war es das. Diese Rubrik bot mir einen so direkten Kontakt zur Leserschaft, wie ich ihn heute nicht mehr habe. Die Fragen haben mir ein klares Bild vermittelt, was die Leute mit ihren Computern tun und was sie gern tun möchten, aber nicht immer erreichen. Ich hatte viele Stammkunden, von denen ich einige bei einigen Gelegenheiten auch persönlich kennengelernt habe. Das ist Leserbindung – und zwar in einer Form, wie sie sich Verlage nur wünschen können, in einer Zeit, in der es nur einen Klick oder Tap braucht, um von einem Medium zum nächsten zu wechseln.

Oder doch ein Relikt der Vergangenheit?

Es gibt auch ein überzeugendes Gegenargument: Das basiert auf der These, dass Computer heute «erwachsen» sind. Sie sind nicht mehr so schwer zu verstehen, nicht mehr so fehleranfällig und viel leichter zu handhaben. Das sehen wir daran, dass die entsprechenden Sachbücher aus den Buchhandlungen verschwunden sind und die Service-orientierten Computerzeitschriften einen schweren Stand haben. Es zeigt sich auch bei den Computern selbst, bei denen die klassische Hilfsfunktion via F1-Taste dahinsiecht und in ein paar Jahren komplett verschwunden sein wird. Wers nicht glaubt, sollte sich meine elf Gründe, warum heute fast alles besser ist als früher zu Gemüte führen.

Klar, Probleme und Herausforderungen gibt es nach wie vor. Sie verlagern sich indes aus dem Feld der «normalen» Anwendung in Spezialbereiche, die für eine Tageszeitung nicht mehr so relevant ist. Und schliesslich können wir uns Antworten heute auch von Youtubern oder Tiktokern geben lassen – oder uns vertrauensvoll an eine KI wenden. Dort sind die Antworten, würde ich sagen, im Schnitt zwar weniger kompetent. Dafür sind sie instantan, ohne die Wartezeit, die eine Mailanfrage so mit sich bringt.

Zeitgemäss wäre ein Dialog auf Augenhöhe

Darum komme ich, acht Jahre später und aller Nostalgie zum Trotz, zum Schluss, dass es kein Fehler war, die «Kummerbox» einzustellen. Es war wahnsinnig viel Arbeit, die ich zu einem grossen Teil in meiner Freizeit verrichtet habe. Aber es bräuchte dringend eine moderne, interaktive Inkarnation, einen zeitgemässen Dialog mit dem Publikum: Bei dem sollte nicht die Problemlösung und die nackte Informationsvermittlung im Zentrum stehen. Er passt allein deswegen nicht mehr in die heutige Zeit, weil er den Zeitungsleser in die Position des Bittstellers rückt und der Experte der Zeitung ex cathedra sein Verdikt darreicht.

Das Problem ist das Wie: Vor einiger Zeit hat Jan Böhmermann die Zuschauerinnen in sein «ZDF Magazin Royale» anrufen lassen, was hier als «belangloses Gequatsche» ankam und mir als wahnsinnig langweilig in Erinnerung blieb. Wir beim «Tagesanzeiger» haben Versuche via soziale Medien unternommen, was im Prinzip funktioniert, aber das Problem beinhaltet, dass der Dialog auf einer fremden Plattform wie Facebook stattfindet und nicht im eigenen Kanal – und immer einen Teil des Publikums ausschliesst, der dort nicht vertreten ist.

Aber, hm, ich sage es ungern, aber vielleicht wäre das eine sinnvolle Anwendung fürs Metaversum. Und bis dahin sollten wir uns den Kopf zerbrechen, wie es auch ohne VR-Brille klappt …

Fussnoten

1) Ich war dafür zwischen 2000 und 2015 zuständig; mein Vorgänger war Jürg Bühler, der sich – falls ich das richtig in Erinnerung habe – von 1997 bis 2000 für die Antworten zuständig war.

2) Zumindest meine private Mailadresse. Es gab auch eine Kummerbox-Mailadresse, die nach dem Ende abgeschaltet worden ist. Es wäre interessant zu wissen, ob dort heute noch Nachrichten eintrudeln. Dass das so sein muss, sehe ich daran, dass ab und zu eine Nachricht an mich persönlich weitergeleitet wurde, nachdem sie als unzustellbar von kummerbox@tagesanzeiger.ch zurückgekommen ist. 

3) Ich beantworte diese Fragen jeweils – und zwar in meiner Freizeit –, erlaube mir aber, sie für den Nerdfunk von Radio Stadtfilter zu benutzen, wo die Zeitungsrubrik am letzten Dienstag im Monat als Kummerbox Live in radiofoner Weise weiterlebt.

4) Ich habe Zehntausende Mails geschrieben und ein Stehsatz-Archiv mit Tausenden von Elementen verwaltet, um die Fragen effizient zu beantworten. Denn irgendwann habe ich mir in den Kopf gesetzt, nicht bloss einzelne Fälle aus den eingegangenen Fragen herauszupicken und auf die in der Zeitung einzugehen, sondern jeder Fragestellerin und jedem Fragesteller (zur Geschlechterfrage: siehe hier) eine Rückmeldung zukommen zu lassen.

Beitragsbild: Trotz ihres Ablebens hat sie sich gut gehalten (Thirdman, Pexels-Lizenz).

One thought on “Eine Tote, die acht Jahre später noch Lebenszeichen zeigt

  1. Ich denke, eine Kummerbox würde heute sehr gut ankommen. Es stimmt zwar, dass sich gewisse Probleme dank automatischen Updates selbst lösen, dafür gibt es andere Gründe, um gerne einen persönlichen Ansprechpartner zu haben.

    Seit einigen Jahren findet man bei der Suche nach Fehlermeldungen fast nur noch SEO-Spam. Zu einer Outlook-Meldung sind die ersten hundert Resultate im Stil von „[2023] [solved] Outlook not working“ aufgebaut und enthalten zwei unsinnige Vorschläge und als dritte Option den Vorschlag, ein „Repair-Tool“ zu kaufen. An den Support von Microsoft gelangt man trotz gültiger Lizenz kaum. Da wäre die Kummerbox gefragt.

    Ein anderer Grund ist die steigende Komplexität. Manch ein Heimanwender hätte da gerne Beratung grundsätzlicher Art. Nicht „mein Word stürzt ab, was tun?“, sondern „Office kaufen oder mieten oder gibt es kostenlose Alternativen?“ oder „iPhone 13 vs Galaxy S23, was sind die Vor- und Nachteile?“.

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