Bloss ein Vollidiot mit Spezialbegabung

Wann wurde in den Schweizer Medien zum ersten Mal über die künst­liche Intel­li­genz be­richtet? Ich bin ins Archiv ge­stie­gen und habe eine auf­schluss­reiche Ent­deckung ge­macht.

Das hier ist ein Versuchsballon für eine neue Rubrik hier im Blog namens Tech-Premiere. In dieser würde es darum gehen, wann und in welchem Kontext die Schweizer Medien zum ersten Mal über ein bestimmtes Thema berichtet haben. Ich vermute, dass eine solche «historische» Dimension das Potenzial für spannende Erkenntnisse hat¹. Nämlich: Wann ist das Thema ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen und was war der Anlass? Wie war die Einschätzung damals? Hat man die Neuerung als positiv oder als Bedrohung wahrgenommen? Und war die Einschätzung akkurat?

Natürlich dürfte es in annähernd hundert Prozent aller solcher Nachforschungen so sein, dass sich weder die Ängste noch die Hoffnungen erfüllt haben und sämtliche Orakelsprüche kreuzfalsch waren. Denn Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen². Sich darüber lustig zu machen, wäre naheliegend – aber natürlich auch unfair. Darum sollte es tatsächlich darum gehen, uns unserer veränderten Wahrnehmung bewusst zu werden.

Am 10. Mai 1961 war es so weit

Also, machen wir die Probe aufs Exempel. Und zwar mit dem Begriff der künstlichen Intelligenz. Ich schlage dazu in der Schweizer Mediendatenbank SMD nach und werde natürlich in der NZZ fündig³. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat am 10. Mai 1961 in ihrer «Technik»-Rubrik einen grossen Artikel unter dem Titel «Alte und neue Automaten», in dem die Geschichte «vom ersten Münzautomaten zum Elektronengehirn» erzählt werden soll – er ist entsprechend ausführlich ausgefallen und hat einen Überlauf auf die nächste Seite. Er basiert auf einem Vortrag von Prof.Dr. W. T. Bunge, dem Leiter des Forschungsinstituts der Telefunken GmbH, den er an einem Presseempfang an der Deutschen Industriemesse Hannover gehalten hat.

W. T. Bunge fängt bei den alten Griechen an, beschäftigt sich dann ausführlich mit dem Autopilot in Flugzeugen, mit Regelkreisen bei Ölheizungen, um dann, auf der zweiten Seite, zu den «Informationsautomaten» zu gelangen. Und hier heisst es dann:

Angesichts dieser Möglichkeiten des informationsverarbeitenden Automaten muss man seine Vorstellungen darüber revidieren, dass die Intelligenz ein Attribut erst höherer Tiere bis zum Homo sapiens sei. Man muss sich an den Begriff der «künstlichen» Intelligenz gewöhnen.

Der Autor führt eine «elektronische Maus» an, die in einem Labyrinth den kürzesten Weg zum Ausgang finden soll. Das Beispiel ist aus heutiger Sicht nicht sehr praxisbezogen, aber es trifft den Kern des Problems dennoch gut: KI, so wie wir sie heute verstehen, ist ein Ansatz der Problemlösung, bei der die Maschine die menschlichen Methoden imitiert.

Ein primitives Modell des Willens?

Und noch im gleichen Abschnitt kommt die Frage, die uns auch heute bei diesem Thema beschäftigt:

Ist die zielgerichtete Selbstprogrammierung der elektronischen Maus, die den Ausgang des Labyrinths systematisch sucht, vielleicht ein primitives Modell des Willens?

Das ist für mich ein Beleg, wie gross der Drang von uns Menschen ist, in solchen Maschinen eine Art Gegenpart zu sehen: Anders als wir, aber im Kern doch sehr ähnlich. Denn 1961 steckte die Disziplin noch in den Kinderschuhen. Das maschinelle Lernen zwar zwar schon erfunden (1959), aber die Vorstellungen waren im Vergleich zu heute sehr vage: Es ging darum, dass sich Computer irgendwie selbst Lösungsstrategien beibringen können – theoretisch, zumindest.

Der Hang zur Vermenschlichung ist genauso alt wie die Technologie selbst. Dessen sollten wir uns bewusst sein: Das ist eine Sehnsucht, die wir noch so gern auf Maschinen projizieren, die sie nicht erfüllen. Auch Prof.Dr. W. T. Bunge hielt so einen schlauen Automaten noch nicht einmal für eine grosse Herausforderung:

Man kann auch den Automaten so bauen, dass ihm «etwas Neues einfällt». Das ist nicht einmal schwierig; viel mehr Mühe kostet es, ihn so zu bauen, dass er streng bei der Sache bleibt und keinen Unsinn macht.

«Man sollte meinen, dass dazu nicht einmal viel Intelligenz gehört»

Das ist einerseits etwas gar salopp, wenn wir uns vor Augen führen, welcher technische Aufwand für ein grosses Sprachmodell wie ChatGPT betrieben werden muss. Andererseits stimmt es schon: Wir müssen einigen Aufwand betreiben, dass diese KIs keinen «Unsinn machen». Weiter unten im Text korrigiert sich Bunge jedoch selbst:

Anderseits gelingt es noch nicht, trotz aller Intelligenz, die man ihr geben kann, eine Maschine zu bauen, die handschriftlichen Text lesen und auf der Schreibmaschine abschreiben könnte. Noch schwerer scheint es zu sein, eine Maschine zu bauen, die gesprochenen Text einwandfrei niederschreibt, und man sollte doch meinen, dass dazu gar nicht einmal so viel Intelligenz gehört und jedenfalls nicht Empfindung, sondern nur Wahrnehmung.

Die Entwickler von OCR- und Transkriptionssystemen werden (Achtung, Ironie!) erfreut über diese Einschätzung sein. Und für uns ergibt sich die Gelegenheit, uns darüber zu freuen, in was für einer spannenden Zeit wir leben. Der Schlusssatz in diesem bemerkenswerten Text lautet:

Und wenn man nun abzuschätzen versucht, wie gross Rechenwerk und Speicher einer Maschine sein müssten, um sich der Grössenanordnung des menschlichen Gehirns zu nähern, dann kommt man zu ganz ungeheuren Zahlen. Alles, was der Mensch bis heute verwirklichen kann, bleibt weit dahinter zurück. Im Vergleich zum Menschen ist auch das grösste und schnellste Elektronengehirn von heute ein Vollidiot mit einer phänomenalen Spezialbegabung im Rechnen.

Ja, wir haben heute die Automaten, die alle diese Aufgaben lösen. Doch wo die vollidiotische Spezialbegabung aufhört und die wahre künstliche Intelligenz anfängt, wissen wir noch immer nicht.

Fussnoten

1) Ich habe das schon bei früheren Gelegenheiten durchexerziert, ohne dass ich auf die Idee gekommen bin, eine Rubrik draus zu machen: Im Beitrag Retrofuturistische Perlen aus dem SRF-Archiv ging es jüngst um die Bildverarbeitung vor Photoshop und ums elektronische Geld. Im Beitrag Youtube war von der schnellen Truppe, Facebook ein Spätzünder habe ich mir die Anfänge der medialen Berichterstattung zu sozialen Medien angeschaut.

Ich habe mich gefragt, wie die Medien damals über Windows (Als Windows erst für eine Randbemerkung gut war) und über den Mac (Die Steinzeit der Computerberichterstattung) berichtet haben. Und im Blogpost Die Zukunft des Internets. Und der Welt habe ich analysiert, wie gross die Verklärung doch zu Anfangszeiten der sozialen Medien gewesen ist.

2) Mark Twain

3) Das ist kein Wunder, weil die NZZ zu den wenigen Medien gehört, die annähernd vollständig digital archiviert ist. Andere Medien, auch grosse Zeitungen, sind erst seit den 1990-er Jahren verfügbar. Das schmälert die Aussagekraft zu einem gewissen Grad, weil Pionierleistungen anderer Zeitungen und Zeitschriften an dieser Stelle nicht im gebührenden Mass gewürdigt werden. Damit müssen wir leider leben, weil ich keine Kapazität für Recherchen in Mirkofilm-Archiven habe.

4) Der NZZ-Redaktor fühlte sich an dieser Stelle zu einer Präzisierung bemüssigt: «Versuche dieser Art sind seit längerer Zeit bekannt, zum Beispiel von Jean Dreyfus-Graf in Genf. Vgl. «Der phonetische Steno-Sonograph», «Technik» Nr. 1193 der «NZZ» vom 7. Juni 1950. Die Anlage wurde in der letzten Zeit weitgehend verbessert. Das gesprochene Wort wird mit der Schreibmaschine wiedergegeben, allerdings nicht in korrekter Schreibweise.»

Beitragsbild: So sahen Computer in den 1960er-Jahren aus – ChatGPT lief noch nicht darauf. Der Siemens 4004 im Hauptgebäude der N.S. in Utrecht (Nederlandse Spoorwegen/Wikimedia, CC0 1.0).

One thought on “Bloss ein Vollidiot mit Spezialbegabung

Kommentar verfassen