Das ungeklärte Claude-Longchamp-Rätsel

Digitale Um­welt­ver­schmutzung: Das sind Beiträge, die keinen sicht­ba­ren Nutzen haben – aber trotz­dem im Netz auf­tau­chen. An­hand zweier Bei­spiele – eines davon zu einem prominenten Blog­ger aus der Schweiz – gehe ich den Hin­ter­grün­den nach.

Als Betreiber dieses Blogs erhalte ich des Öfteren unmoralische Angebote. In denen wollen mich Leute mittels finanzieller Anreize dazu bringen, einen Text von ihnen zu veröffentlichen oder zumindest einen bestimmten Link zu platzieren. Natürlich jeweils ohne einen Hinweis über die damit verbundenen Transaktionen.

Es stecken zweierlei Absichten hinter diesen Mails: Die einen wollen mich zur Schleichwerbung anstiften. Die anderen haben Suchmaschinenoptimierung im Sinn. Wobei, was das angeht, halte ich den Begriff «Google-Manipulation» für treffender: Denn diese untergejubelten Links machen die verlinkte Website für den Pagerank-Algorithmus interessanter und sorgen dafür, dass sie in den Suchresultaten nach oben steigt.

So weit, so bekannt. Doch was mich schon immer interessierte, ist Folgendes:  Welche Blogs und Medien lassen sich auf solche Deals ein? Und wie sind die Beiträge qualitativ einzuordnen, die dabei entstehen? Ich habe zwei Beispiele, die uns einer Antwort näherbringen:

1) «Mashable»

Zweimal der genau gleiche Artikel mit einer leicht variierten Stossrichtung.

«Mashable» steht im Verdacht sich auf solche Deals einzulassen. Es geht um den Artikel How to unblock Netflix Germany for free. Der erklärt kurz, dass sich mittels VPN Geosperren umgehen lassen, was es ermöglicht, auf den Katalog eines anderen Landes zuzugreifen. Dann zählt er einige bekannte VPN-Anbieter auf, um schliesslich zu folgendem «Argument» auszuholen:

Dies sind starke Lösungen, die Sie enttäuschen werden, aber ExpressVPN ist nach wie vor führend, wenn es um Streaming geht.

Eine journalistische Begründung für diese Lobpreisung gibt es nicht. Es folgt eine Aufzählung von Funktionen, wie sie auch in der Pressemeldung stehen könnten.

Ich habe daraufhin auf denNamen des Autors, Joseph Green, geklickt, und eine überraschende Entdeckung gemacht: Es gibt weitere Artikel mit der genau gleichen Machart auf «Mashable»: Wie man gratis RAI, die MTV Video Music Awards, Youtube Premium, die Basketball-Weltmeisterschaft, den Asia Cup oder die Vuelta in Spanien schaut – und zwar immer mit dem gleichen Trick, der auch für Netflix Deutschland funktioniert. Es gibt auch einen, der erklärt, wie man gratis «Porn» schaut – ebenfalls mit freundlicher Unterstützung durch ExpressVPN.

Geht es um «House of the Dragon» oder um Kryptowährungen? Einen Unterschied macht es jedenfalls nicht.

Nun weiss ich zufällig, dass ExpressVPN tatsächlich solche Deals anbietet. Ich habe selbst diverse Mails von Sebastian und Rico vom PR-Team dieses Anbieters bekommen, immer zu einem gerade aktuellen Anlass: Einmal zu «House of the Dragon», zu den «grössten Krypto-Diebstähle aller Zeiten», zu Deepfakes, der VR-Brille von Apple und dem Metaversum. Man könnte fast auf die Idee kommen, dass hier ein Muster zu erkennen ist.

Einen Beleg dafür, dass Sebastian oder Rico bei «Mashable» erfolgreicher war als bei mir, habe ich nicht. Ich habe via Twitter angefragt, ob es sich um Native Advertising handelt, aber keine Antwort bekommen. Dementiert hat jedoch auch keiner.

Was aber fast schon egal ist: Was«Mashable» hier bietet, ist eine miese Nummer, die entfernt nach Journalismus ausschaut, damit aber nichts zu tun hat.

Das tut mir weh, weil ich dieses Portal bislang gern gelesen habe, es nun aber zu den Kandidaten zählen muss, die am Niedergang der Computer-Berichterstattung Mitschuld sind. Aber einen Artikel, der meines Erachtens nicht einmal grundlegende handwerkliche Anforderungen erfüllt, mit diversen unterschiedlichen Aufhängern zu veröffentlichen, ist Verrat an der Leserschaft.

2) «Stadtwanderer»

Via Google noch zu finden, aber auf der Website verschwunden: Die diversen Artikel mit Dating-Tipps.

Der zweite Fall ist im Vergleich zu «Mashable» seltsam. Er betrifft Claude Longchamp, den viele von uns als Polit-Experten aus den Medien kennen. Er betreibt das Blog stadtwanderer.net, in dem es um «Geschichte(n) aus meinem Lebensraum» geht, und auf dem auch viel Interessantes zu diesem Thema zu lesen ist.

Nun habe ich auf dieser Website mehr als ein Dutzend Beiträge gefunden, die so gar nicht zur Geschichte und diesen Geschichten passen. Es geht um Dating im Netz, um Dating-Websites, um die russischen Bräuche des Kennenlernens, um asiatische Frauen als Heiratskandidatinnen und dergleichen mehr. Die Texte sind allesamt in Englisch und, seit ich sie gefunden habe, aus dem Blog verschwunden. Über Archiv.org sind einige, aber nicht alle davon, noch zugänglich¹.

Was hat das mit dem Stadtwandern zu tun? Ich weiss auch nicht, wie Claude Longchamp zu digital vermittelten Eheschliessungen steht, aber der Grundton irritiert. Den Artikel «Submit Order Matrimony Statistics» (Archive.org) kann man nur als brutale Schönfärberei bezeichnen, zumal die Frage im Raum steht, wo der «Postversand» aufhört und der Menschenhandel anfängt.

Statistiken über Versandhandelsehen sind eine der besten Möglichkeiten, um zu verstehen, ob diese Art von romantischer Beziehung funktioniert. (…) Kennen Sie die tatsächliche Erfolgsquote von Postversandbräuten? Es gibt viele Gründe, warum sich junge Frauen dafür entscheiden, ihre zukünftigen Partner im Ausland kennenzulernen. Diese Mädchen sind eher geneigt, jemanden zu finden, der sie wertschätzt und ihre Persönlichkeit insgesamt akzeptiert.

Vielleicht habe ich bloss die Pointe nicht verstanden?

In diesem Beitrag findet sich ein Link auf die Website des Thailändischen Provinzbüros für Gemeindeentwicklung von Nakhon Pathom, Abteilung für Gemeindeentwicklung im Innenministerium, was die Sache für mich befremdlicher, aber nicht wesentlich seriöser macht².

Wer illustriert einen Artikel mit Dating-Tipps so? (Unikenntlichmachung durch mich.)

Einen Beitrag fand ich verstörend, weniger wegen des Textes, sondern der Bebilderung: In «Remarkable First Date Tips For Russian Girls» (Archive.org) geht es ums Kennenlernen von russischen Frauen. Die werden durchs Band weg «girl» oder «gal» genannt und wir erfahren auch, dass «russische Frauen keine prüden Männer» mögen. Die Abbildung zu diesem Beitrag ist ein Mädchen, das ich auf fünf, sechs Jahre schätzen würde. Das ist unter keinen Vorzeichen ein akzeptables Foto für einen solchen Beitrag. Wenn ich mir überlege, was damit impliziert wird, dreht sich mir den Magen um.

Ich sehe nur zwei Gründe, wie es zur Veröffentlichung solche Beiträge kommt: Erstens, eben, weil es finanziell lukrativ ist. Oder zweitens, weil die Website gehackt worden ist. Wenn ich sehe, dass es Tausende von Brute-Force-Angriffe gegen mein Blog gibt, dann wird es auch anderen so ergehen. Und manche der Attacken werden auch erfolgreich sein. Dass das bei meinem Blog niemals der Fall sein wird, dafür würde ich auch nicht meine Hand ins Feuer legen.

Die Vermutung drängt sich auf: «Stadtwanderer» wurde gehackt. Denn ist es vorstellbar, dass Claude Longchamp als kluger Polit-Experte auf derlei Einnahmen angewiesen ist und dabei verkennt, was für ein schiefes Licht derlei Inhalte auf seine Website werfen?

Gegen diese Erklärung spricht, dass diese Beiträge über eine längere Zeit veröffentlicht worden sind: Ich habe die Website nicht vollständig abgegrast, aber von den untersuchten Beiträgen stammt der jüngste aus dem März 2023 und der älteste, jener über die ukrainischen Frauen, aus dem Juli 2021. Bemerkt tatsächlich während fast zwei Jahren niemand eingeschleuste Inhalte?

Natürlich habe ich Claude Longchamp angefragt, aber auch auf mehrere Mails keine Antwort erhalten. Darum bleibt der Sinn und Zweck ungeklärt. Mein Verdacht ist daher unwiderlegt, dass es sich um einen SEO-Trick handelt, um die Websites «ukraine-woman dot com», «bridesrussia dot net», «myrussianbrides dot net», «lybrate dot com», «themailbride dot com», «onebeautifulbride dot net», «confettiskies dot com», «myhotbride dot com» und «mailorderbrideguide dot net» zu boosten.

Und was lernen wir daraus?

Kommen wir zum Fazit und zur Frage, ob das nun verwerflich ist. Man kann argumentieren, dass es das nicht ist – wenigstens, wenn wir die «Dating Tips for Russian girls» ausklammern: Jeder kann in sein Blog schreiben, was er will – auch Dinge, die sich Leserinnen und Lesern wie mir nicht erschliessen. Als Leserin und Leser umgekehrt darf man solche Seltsamkeiten einfach ignorieren. Und auch mich hat niemand gezwungen, mich mit den absonderlichen Beiträgen auf «Stadtwanderer» zu beschäftigen.

Trotzdem: Ich bedauere das, weil das Web dadurch insgesamt schlechter wird. Es handelt sich, um das plakativ zu sagen, digitale Umweltverschmutzung. Solche Websites vermüllen das Web. Und die Vermüllung dürfte mit ChatGPTs Hilfe noch deutlich zunehmen³.

Was man nur schwerlich ignorieren kann, ist die Tatsache, dass derlei Trickserei die Suchmaschinen negativ beeinflussen. Sie sorgen für eine Verzerrung der Trefferlisten und sind schuld, wenn wir nicht das finden, wonach wir gesucht haben.

Und das muss jeden stören, der ab und zu Suchmaschinen benutzt.

Fussnoten

1) Einige dieser Blogposts:

2) Was ich auch noch gemacht habe: Ich habe via Google und über Plagiats-Suchmaschinen versucht herauszufinden, ob einige der Texte auch anderswo erschienen sind. Das wäre ein deutlicher Beleg für eine wie auch immer geartete «Syndizierung». Die Plagiats-Suchmaschinen sind nicht fündig geworden, aber bei einigen Treffern sind Ähnlichkeiten zu erkennen. Zum Beispiel beim Text «Submit Order Matrimony Statistics». Er beginnt auf «Stadtwanderer» so:

Mail purchase marriage statistics are one of the best ways to understand whether this type of romantic relationship works.

Auf fritega.com.ec heisst der erste Satz:

The mail buy marriage statistics are a great way to determine the best place mail order bride italy to meet your soul mate.

3) ChatGPT als Komplize?

Es liegt auf der Hand, dass ein solches Sprachmodell hervorragend geeignet ist, die wichtigen Punkte in eine Form zu packen, wie sie für den jeweiligen Kunden am besten passt. Eine KI kann auch beim Verschleiern der Spuren helfen – anders als vor zehn Jahren. Damals hat eine Google-Suche ausgereicht, um herauszufinden, wer einem unmoralischen Angebot nicht hat widerstehen können.

Allein deswegen wundert es mich nicht, dass die Zahl dieser Angebote in diesem Jahr explosionsartig angewachsen ist: Ich habe schätzungsweise hundert Stück in meinem Postfach, wobei ich längst nicht alle archiviert habe. Und auch wenn vor allem die Social-Media-Influencer im Verdacht stehen, käuflich zu sein, scheint diese klandestine Marketing-Methode auch bei den Text-Medien zu funktionieren. Denn sonst würde ich keine solchen Mails mehr bekommen.

Beitragsbild: Das Web – Symbolbild (Lucien Wanda, Pexels-Lizenz).

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