Es gab und gibt viel zu schimpfen über Twitter, X, oder wie Elon Musks Kurznachrichtendienst heute auch immer heissen mag. Eine Neuerung so gut, dass sie mich davon abgehalten hat, Twitter den Rücken zu kehren – obwohl ich letzte Woche kurz davor war, mein Konto zu löschen.
Eine Klarstellung ist allerdings gleich zum Anfang nötig: Das Lob gebührt nicht Elon. Die Neuerung wurde schon im Januar 2021 eingeführt, also noch vor Musk Ägide. Aber immerhin hat Elon sie nicht wieder abgeschafft. Und seit ein paar Wochen entfaltet sie ihre Wirkung: Ich sehe die kollektiven Anmerkungen inzwischen recht häufig, und ich bin Mitwirkender bei dieser Community geworden, die sie beurteilt und verfasst.
Die kollektiven Anmerkungen, in Englisch «Community Notes» genannt und ursprünglich als Birdwatch, sind eine einleuchtende Sache: Die Gemeinschaft erhält die Möglichkeit, einen einseitigen, falschen oder irreführenden Tweet mit sachlichen Informationen zu ergänzen. Typischerweise wird ein Link beigesteuert, der einen Kontext liefert und auf eine neutrale, möglichst wissenschaftliche Quelle verweist. Man könnte auch von einem Faktencheck für den Tweet sprechen.
Angewandte Medienkompetenz
Mir gefällt dieses Konzept. Es erlaubt, dass man eine Menge Unfug stehen lassen kann, bei dem man sich ohne die zusätzliche Einordnung eine Löschung wünschen würde. Die Community Notes appellieren an den gesunden Menschenverstand und an die viel zitierte Eigenverantwortung – denn wer ideologisch nicht völlig vernagelt ist, der kann damit leben, dass Sachverhalte oft anders oder auch komplizierter sind, als dass einem das ein Tweet mit 280 Zeichen weismachen möchte. Das ist angewandte Medienkompetenz.
Klar: Es bedeutet nicht, dass manche Dinge nicht dennoch gelöscht werden müssen. Hass ist bekanntlich keine Meinung, und wer bloss hetzt und sich destruktiv verhält, sollte sanktioniert werden. Aber die Community Notes tragen der Meinungsäusserungsfreiheit Rechnung, ohne dass deswegen jeder Unfug unwidersprochen bleiben müsste.
Wie man Mitwirkender wird
Wie angedeutet, bin ich Mitwirkender geworden – und zwar ohne, dass ich das überhaupt beabsichtigt hatte. Ich habe mir jedoch ein paar Mal die Mühe gemacht, gute Anmerkungen entsprechend zu bewerten. Auf diese Weise habe ich mir das Recht verdient, auch Anmerkungen schreiben zu dürfen: Im Menü, das bei jedem Tweet rechts oben über die drei Punkte zugänglich ist, erscheint nun auch der Befehl Eine kollektive Anmerkung schreiben.
Welche Regeln fürs Verfassen gelten, beschreibt Twitter hier: Es gibt ein Limit, wie viele Anmerkungen jemand pro Tag anbringen kann. Natürlich ist das dazu da, Missbrauch wie Spamming zu verhindern. Das Limit steigt, je mehr positive Bewertungen die eigenen Anmerkungen erhalten haben. Und die Anmerkungen werden auch erst veröffentlicht, nachdem sie als hilfreich bewertet worden sind. Falls das nicht der Fall ist, kann man sein Schreibrecht auch wieder verlieren.
Einen Bezugsrahmen liefern
Die Merkmale für eine gute Anmerkung können hier nachgelesen werden, aber sie ergeben sich von selbst: Wir brauchen eine hochwertige Quelle, die jemandem auch wirklich weiterhilft, der sich unabhängig zum Thema des Tweets informieren will. Die Anmerkung sollte verständlich geschrieben sein, direkt auf die Aussage eingehen, einen Bezugsrahmen liefern und selbst neutral bleiben.
Und noch etwas: Im Hauptmenü von Twitter gibt es für Mitwirkende den Punkt kollektive Anmerkungen: Hier erscheinen Tweets mit Community Notes, die bisher nicht bewertet wurden und daher vorerst unsichtbar sind. Hier können wir, falls wir nichts anderes zu tun haben, uns als Freischalter betätigen.
Fazit: Wenn genügend Leute mitwirken und das auch ernsthaft tun, dann besteht eine Chance für die Schwarmintelligenz. Natürlich ohne, dass alle Probleme gelöst wären: Auch wenn es gewisse Sicherheitsmechanismen gibt, wäre es durch konzertierte Aktionen möglich, unliebsame Anmerkungen zu eliminieren oder tendenziöse Anmerkungen anzubringen.
Das grösste Problem dürfte darin bestehen, dass ein dummer, falscher oder bösartiger Tweet in ein ein paar Sekunden geschrieben ist, doch selbst ein routinierter Faktenchecker für eine gute Anmerkung ein paar Minuten braucht. Ausserdem vergeht Zeit zwischen dem Schreiben und dem Prüfprozess – und während der bleibt der Ursprungs-Tweet unwidersprochen. Sich in den sozialen Medien um Redlichkeit, Wahrheit und Fairness zu bemühen, bleibt ein Kampf gegen Windmühlen …
Beitragsbild: Man fühlt sich schon ein bisschen wie Don Quichotte (Harry Cunningham @harry.digital, Pexels-Lizenz).
Es ist tatsächlich der beste Umgang mit fake news. In Kontext setzen statt löschen und dem Anwender wieder seinen gesunden Menschenverstand zusprechen, der ihm die letzten Jahre zunehmend abgesprochen wurde. Weiterer Vorteil: Fake News Schreiber werden peinlich entlarvt und entfolgt. Keiner lässt sich gerne veräppeln.
Ich bin kürzlich auf diese Argumentation gestossen, weshalb man extremen Inhalten auf Twitter (und anderen Plattformen) nicht widersprechen sollte: https://throwawayopinions.io/the-paradox-of-intolerance.html. Die Argumente scheinen mir einleuchtend oder zumindest prüfenswert.
Das habe ich gern gelesen.