Die Wissenschaft hat festgestellt, dass Forschungsbedarf besteht

An mir ist ein Linguist verloren gegangen. Darum beschäftige ich mich mit der Frage, wie die digitale Kommuni­kation die Sprache verändert. Die Erkennt­nisse sind durch­wachsen – aber immerhin hat der Blogpost eine Pointe.

Aus mir wäre fast ein Linguist geworden. Und auch wenn das nicht passiert ist, faszinieren mich sprachwissenschaftliche Themen nach wie vor. Darum passiert es mir ab und zu, dass ich einem Thema aus dem Bereich hinterher recherchiere.

Das ist mir neulich wieder einmal passiert. Ich habe mich gefragt, ob untersucht worden ist, wie sich die Verbreitung der Computer und der digitalen Kommunikationstechnik auf die Sprache ausgewirkt hat. Die offensichtliche Konsequenz ist, dass Begriffe aus der Fachsprache in den allgemeinen Wortschatz übergehen: Auf diesen Punkt komme ich gleich zurück.

Doch natürlich gibt es auch viele weitere Auswirkungen: Dass manche Leute in einer normalen, nicht-digitalen Konversation ein LOL einwerfen, ist wahrscheinlich nicht nur mir aufgefallen.

Nicht wirklich überraschend ist, dass die Kulturpessimisten einen Sprachzerfall befürchten oder ihn diagnostizieren und anprangern. Es gibt die Bedenken, dass die Chats und Messenger-Apps eine Beschädigung unserer Ausdrucksformen verursachen. Die sind 2013 hochgekocht und wurden widerlegt:

Aber wird [der Einfluss der verkürzten Sprache in Chats] die deutsche Standardsprache langfristig wirklich verändern? Henn-Memmesheimer bezweifelt es. «Es gibt sehr starke Regulative, die dagegenwirken.» Bei offiziellen schriftlichen Texterzeugnissen werden Abweichungen von Rechtschreibung und Orthografie nach wie vor nicht geduldet, weder in der Schule noch an den Universitäten oder im Berufsalltag.

Die Expertin ist Beate Henn-Memmesheimer, Linguistikprofessorin an der Universität Mannheim.

Die Bedenken sind seitdem aber nicht verschwunden, sondern bereits 2018 wieder aufgetaucht. Beim Deutschlandfunk liest sich das wie folgt:

«Voll Lol, Alter!», «Leute, gehen wir Freizeitpark!», «Isch komm mir so vor ob isch wie ein Frau bin». Wer solche Sätze hört, dem sträuben sich schon mal die Nackenhaare. Wer dann vielleicht auch noch gerade am «Back Shop» und am «Handy Store» vorbei fährt und eine SMS bekommt mit dem Inhalt: «CU» für «bis bald», der meint dann doch langsam eindeutige Anzeichen für einen Sprachverfall zu erkennen.

Diese Diagnose wurde anlässlich des zweiten Berichts zur Lage der deutschen Sprache. Und wenn ein Bericht einen derartig bedeutungsschwangeren Titel hat, dann darf man erwarten, dass Gravierendes festgestellt wird. Da ich die 29,95 Euro für den Bericht nicht aufwerfen wollte, weiss ich nun aber nicht, ob das tatsächlich der Fall ist. Im Inhaltsverzeichnis habe ich ein Kapitel zur «Internetbasierten Kommunikation» gefunden, doch zu welchem Schluss die Autorin Angelika Storrer kommt, entzieht sich leider meiner Kenntnis. Die Vorschau hier lässt vermuten, dass es eine eher trockene Lektüre ist.

Spoiler: Die Digitalisierung betrifft uns alle!

Mein Eindruck ist jedenfalls, dass es noch Forschungsbedarf gäbe, zumal ich mit etwas Googeln auf zwei Hausarbeiten (hier und hier) gestossen bin, aber nicht auf gut abgehangene Studien. Dieser Eindruck verfestigt sich auch durch den Beitrag Wie die Digitalisierung auch unsere Sprache verändert der Berner Fachhochschule heisst es, die Begriffskultur würde sich erst entwickeln – die «Trampelpfad der Sprache» seien noch ziemlich frisch:

Wo in den 1990er Jahren noch das despektierlich-bewundernde Wort «Nerd» gereicht hat, um jemanden seine Symbiose mit Computern, IT und Programmiersprachen zu attestieren, so wird seit einigen Jahren auch den Nicht-Nerds klar, dass Digitalisierung sie selbst schon heute betrifft.

Mit anderen Worten: Ich werde dieser Frage in 15 oder zwanzig Jahren noch einmal nachgehen. Dann werde ich mich sicherlich mittels einer breiten Palette von Studien schlaumachen können.

Zurück zum Anfang, wo ich beschrieben habe, dass viele Begriffe aus der Fachsprache ins allgemeine Vokabular übergegangen sind. Diese Entwicklung macht mir als Journalist und Blogger das Leben leichter, indem ich nicht mehr so viele Grundlagen erklären muss. Umgekehrt werden die technischen Zusammenhänge tendenziell kniffliger und erklärungsbedürftiger, sodass mein Job so anspruchsvoll ist wie seit eh und je. (Damit das auch wieder einmal festgehalten ist, LOL.)

Worte sind weniger erklärungsbedürftig, Zusammenhänge dafür umso komplexer

Ein banales Beispiel für die Etablierung von Spezialbegriffen findet sich beim Screenshot. Dieses Wort musste ich in meinem «Tipp der Woche» mit dem Titel Die Geschehnisse auf dem Desktop einfangen vom 3. September 2007 noch ausführlich erklären:

Aufschlussreich sind in solchen Fällen [bei Problemen] Screenshots und Screencasts, auf gut Deutsch Bildschirmfotos und -filme. Ein Bildschirmfoto zeigt auf einen Blick, was am Monitor zu sehen ist. Es ist nützlich für jeden Anwender, der im privaten oder beruflichen Umfeld Computerbelange dokumentieren muss.

Heute gibt es Bands, die The Screenshots heissen (2018 gegründet). Man findet bei SRF eine Kultursendung mit diesem Namen. Und das Wort hat Eingang in den Duden gefunden:

Fotoähnliche Abbildung oder Speicherung dessen, was auf dem Bildschirm zu sehen ist (z. B. als Teil einer EDV-Anleitung)

Q.e.d., könnte man sagen. Leider ist meine Neugierde damit nicht befriedigt. Ich wollte herausfinden, wann das Wort im Duden aufgenommen worden ist – und man demnach sagen kann, dass es in der Allgemeinheit angekommen ist. Doch das ist mir leider nicht gelungen. Aus unerfindlichen Gründen fügt die Duden-Redaktion bei den neuen Einträgen kein Datum an, wann sie hinzugefügt worden sind. Falls aber jemand ein Verzeichnis der Zu- und Abgänge beim Duden kennt, bin ich sehr froh über einen Tipp!

Was taugt Google Trends?

Wie könnte man das herausfinden, um auch für andere Begriffe darzulegen, wie sie Allgemeingut geworden sind? Könnte man einen Versuch wagen, Google Trends als Massstab zu nehmen?

Wenn man diese Frage bejaht, dann hat sich der Screenshot zwischen 2010 und 2015 etabliert.

Die Erkenntnisse von Google Trends zum Stichwort Screenshot.

Allerdings – und diese Überlegung wäre wahrscheinlich einen eigenen Blogpost wert –, ist Google Trends ein nützliches Instrument, um das unmittelbare Interesse an einem Thema abzuschätzen. Wenn die Öffentlichkeit von einem Gegenstand Notiz nimmt, geht die Kurve logischerweise nach oben: Man kann auf diese Weise sagen, wann er die grossen Wellen geschlagen hat.

Eine Aussage, wie etabliert ein Thema ist, lässt sich anhand einer solchen Kurve dagegen nicht treffen: Denn wenn die Leute wissen, wie man einen Screenshot macht, brauchen sie nicht mehr danach zu googeln. Das hätte die paradoxe Folge, dass die Kurve bei Google Trends nach unten geht, eben gerade weil jedermann und jede Frau Bescheid weiss.

Es bleibt die Erkenntnis, dass Google – wie in anderen Fällen auch – zwar jede Menge Daten und Informationen, aber eben keine Erkenntnisse und Einsichten liefert. Wir sind noch nicht so weit, als dass eine Suchmaschine die sorgfältige Forschung eines neugierigen Linguisten ersetzen könnte.

Und nun, meine Damen und Herren: die Pointe!

Damit dieser Beitrag aber nicht in ein komplett unbefriedigendes Ende mündet, habe ich noch eine kleine Pointe abzufeuern – und die wird dann auch verständlich machen, warum dieser Beitrag mit zwei Eishockey-Spielern bebildert ist.

Ich habe nämlich versucht herauszufinden, wann in den Schweizer Medien zum ersten Mal von einem Screenshot die Rede war. Zu diesem Zweck habe ich die Schweizer Mediendatenbank bemüht, wo ich fündig geworden bin.

Die erste Erwähnung erfolgte um Jahrzehnte früher, als ich es für möglich gehalten hätte, nämlich am 6. März 1963, obendrein auf der – und kam für mich mehr als überraschend – Sport-Seite.

Im fraglichen Beitrag geht es um die Eishockey-Weltmeisterschaft, die vom 7. bis 17. März 1963 in Stockholm stattfinden sollte. Die NZZ bewertet die Chancen der einzelnen Mannschaften. Favorit sind die Tschechoslowaken, dicht gefolgt von den Russen, denen es jedoch «an Individualitäten, Spielerpersönlichkeiten fehlt»: Und über diese Russen heisst es nun Folgendes:

Viel zu oft wenden sie zum Beispiel den Rückpass an und gestehen damit dem Gegner wertvolle Sekunden zu, um seine Verteidigung zu organisieren. Ein Spielzug, den sie aus dem Effeff beherrschen, ist der «Screenshot», bei welchem dem gegnerischen Torhüter geschickt die Sicht verdeckt wird.

Als Nicht-Eishockey-Interessierter habe ich keine Ahnung, ob man das wirklich Screenshot nennt. Im Wikipedia-Beitrag Eishockey-Terminologie habe ich nur das Screening gefunden, das mit «Abschirmen» übersetzt und als «der Versuch, dem gegnerischen Torhüter bei einem Angriff die Sicht zu verstellen, um die Chance auf einen Torerfolg zu erhöhen» erklärt wird. Vielleicht ein abgeschirmter Torschuss?

Bleibt die schöne Erkenntnis, dass nicht nur Computer-, sondern auch Sportfachbegriffe eine tückische Angelegenheit sind.

Beitragsbild: Wer den Text zu Ende gelesen hat, weiss auch, was diese beiden Herren mit dem Thema zu tun haben (Lynda Sanchez, Pexels-Lizenz).

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