Zu meinen Jugendsünden gehört, Germanistik studiert zu haben. Was mich damals genervt hat – und noch heute auf den Senkel geht –, ist das Literaturverständnis. Das zeichnet sich dadurch aus, dass nur ein paar wenige grosse Schriftsteller ernsthafte Literatur produzieren. Im Gegensatz dazu stehen die Autoren, die sich der Unterhaltung verschrieben haben. Sie tragen nichts zur Erhellung des Geistes bei und ihre Machwerke sind es ergo nicht wert, von einem beseelten Liebhaber auch nur mit der Kneifzange angefasst zu werden.
Und ja – das ist vor allem ein Mittel der Selbstüberhöhung: Der kleine Germanistikstudent kann sich schon im allerersten Proseminar als Teil einer erlauchten Elite betrachten, wenn er nur Goethe, Schiller, Heine, Mann, Böll und Grass fehlerfrei aussprechen kann.
Mir wäre das niemals eingefallen. Ich hielt es schon immer für ein ehrbares Geschäft, das Publikum unterhalten zu wollen. Aber noch viel mehr war mein Eindruck, dass diese Sichtweise den Blick viel zu sehr einengt – auf eine Weise, die der Wissenschaft abträglich ist.
Gut ist, was wir gut finden
Abgesehen davon fällt die Definition der Hochliteratur – oder Höhenkammliteratur, wie es bei Wikipedia heisst – sehr dürftig aus: Es sei «die anerkannte, in Schule und Wissenschaft als hochstehend angesehene Literatur». Hochstehend ist, was die Academia als hochstehend betrachtet? Einfacher kann man es sich nicht mehr machen.
Ob dieses Verständnis an den deutschen Seminaren heute noch anzutreffen ist, weiss ich nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass der Dünkel nicht mehr ganz so gross ist. Ein Mann wie Martin Suter (Heisse Schlüssel und psychogene Pilze) ist sowohl Feuilleton-tauglich als auch überaus unterhaltsam.
Bei Wikipedia lese ich nach, dass die Sache mit den beiden Qualitätsebenen Hochliteratur und Trivialliteratur inzwischen differenzierter gesehen wird: Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass diese Unterscheidung, selbst wenn man sich dreht und windet, keinen Sinn ergibt. Aber die Erkenntnis, dass man sie aufgeben und ihr keine Träne hinterher weinen sollte, hat sich leider noch nicht festgesetzt.
Stattdessen verficht man nun offenbar ein Dreischichten-Modell: Die Trivialliteratur ist und bleibt ein Synonym für Schund, doch der Unterhaltungsliteratur gesteht man gewisse Qualitäten zu, auch wenn in der Beschreibung, sie sei für den «schnellen und leichten Konsum bestimmt», noch immer eine gehörige Portion Verachtung mitschwingt.
Unterhalten statt quälen
Wie gesagt: Ich sehe nichts Verwerfliches darin, wenn ein Autor sein Publikum unterhalten will – anstelle es zu quälen, damit auch es seinen Schmerz verspürt. Bei der Beurteilung eines Werks frage ich mich, ob es mich etwas über die Welt gelehrt hat. Es interessiert mich, wie sehr ich mich darin wiederfinde und ob ich Raffinesse erkennen kann – sei es sprachlich, bei der Plot-Entwicklung, den Figuren, dem Aufbau. Oder bei allen diesen Aspekten.
Und gerade das zeichnet meines Erachtens jenes Genres aus, das gemäss Definition in akuten Verdacht stehen, zum Bereich des Trivialen gerechnet zu werden. Das ist die Sciencefiction.
In der Sciencefiction-Literatur tummeln sich natürlich auch jene Fantasten, die bloss ihre Kopfgeburten zum Besten geben wollen. Doch im Idealfall – und wie hier mit einem Zitat von Frederik Pohl belegt, sind diese Werke dazu da, uns darauf vorzubereiten, was der technische Fortschritt bringen mag. Und das kann niemand, ausser ein Sciencefiction-Autor.
Mit dieser Erwartung habe ich mich neulich an Der neunte Arm des Oktopus heran gemacht. Das ist ein Near-Future-Thriller, der sich mit dem Klima wandel beschäftigt – und damit genau das richtige tut: Auf unterhaltende Weise auf die Dringlichkeit eines wirklich, wirklich dringlichen Problems hingewiesen zu werden, ist besser, als die 2527. Horrormeldung in der Presse zu lesen. Und ja, vielleicht kann eine fiktive Geschichte ihren Teil zu einer Lösung beitragen, weil gute Sciencefiction im über mehr Weitblick verfügen als, sagen wir, zum Beispiel Politiker.
Darum ist es schade, dass «Der neunte Arm des Oktopus» diese Chance IMHO leider nicht packt. Das Buch hat den Aufbau und die Struktur eines grossen Thrillers – doch nach ein paar Dutzend Seiten wird klar, dass man es nicht mit einem Buch wie Frank Schätzings Der Schwarm (Amazon Affiliate) zu tun hat, das uns überdeutlich vor Augen geführt hat, wie mies die Menschheit mit den Weltmeeren verfährt.
Mit grosser Kelle angerührt
Das liegt daran, dass das Buch zwar einiges dafür tut, den Leser ans Thema heranzuführen, es dann aber nicht schafft abzuheben. Es gibt zwar einiges an Personal, aber keine Protagonisten mit einer tragenden Rolle. In der Ausgangslage wird ein riesiger Kladderadatsch heraufbeschworen, der sich nicht zu entfalten vermag.
Dieser Kladderadatsch sieht, kurz geschildert, wie folgt aus: China, Russland und die USA lassen ihre Differenzen beiseite und vereinigen ihre Kräfte und ihre drei Nationen zur G3. Diese Gruppe der drei wichtigsten Industrienationen macht bisherige Allianzen und Weltorganisationen hinfällig. Sie führt eine Art globalen Staatsstreich der Supermächte statt, die die anderen, kleineren Nationen ihrer Autonomie berauben.
Wladimir Putin, Xi Jinping und Kamala Harris – die in den Zwanziger Jahren US-Präsidentin ist – ergreifen rigorose Massnahmen: Sie schränken den Fleischkonsum massiv ein, zwingen den Staaten in Indien und Afrika eine Ein-Kind-Politik auf und besteuern die Superreichen, als hätten die Jusos die Macht übernommen. Man könnte das – und die Presse tut es im Roman auch –, als Ökodiktatur bezeichnen.
Die spannende Frage wäre, wie die Welt mit einer solchen Zerreissprobe umgehen würde. Wer würde siegen – der globale Überlebenssinn oder die kurzsichtigen Partikularinteressen? Diese Frage wird nur ansatzweise beantwortet, indem kriminelle Kräfte die Rettung der Welt hintertreiben. Zum Beispiel, weil sie mit ihren Interessen kollidiert, weiterhin die Regenwälder Brasiliens abzufackeln.
Die spannende Frage, ob so ein Schritt legitim, notwendig oder sogar unausweichlich ist, wird nicht befriedigend beantwortet. Und trotz vieler Fakten – die Autor Dirk Rossmann mithilfe mindestens eines Dutzends Rechercheure zusammengetragen hat –, wird diese Geschichte nicht lebendig.
Am Ende fasert die Geschichte aus, beziehungsweise wird auf eine Art Happy End hingeprügelt, bei sich der Konflikt mit Brasilien in Wohlgefallen auflöst, nachdem die vernünftigen Kräfte in der Regierung ihren Präsidenten abgesetzt haben. Der Präsident heisst übrigens nicht Bolsonaro, sieht diesem autokratischen Populisten aber zum Verwechseln ähnlich. Die Kräfte, die gegen G3 intrigiert haben, geben auf und ziehen sich zurück – wobei die Sache mit dem neunten Arm des Oktopus auf unbefriedigende Weise in der Luft hängen bleibt.
Mit Schreiben wird man nicht Milliardär
Man darf an dieser Stelle vermuten, dass der Autor seinen eigenen Ansprüchen nicht ganz gewachsen war. Der Autor ist Dirk Rossmann, 74, Gründer der zweitgrössten deutschen Drogeriemarktkette namens Rossmann, und gestandener Milliardär.
Und klar: Auch ein Milliardär kann ein hervorragendes Buch schreiben, auch wenn in unserer Wahrnehmung Autoren, selbst wenn sie höchst erfolgreich sind, niemals zu den Superreichen aufschliessen. Selbst Stephen King bringt es (angeblich) bloss auf etwa 400 Millionen. Nur zwei Autoren, nämlich J.K. Rowling und Elisabeth Badinter haben die Milliardengrenze geknackt – letztere allerdings wohl vor allem in ihrer Rolle als grösste Aktionärin eines grossen französischen Werbekonzerns.
Die Schwierigkeit liegt eher darin, dass eine Person, die ein Milliardenvermögen anhäuft, keine Zeit hat, sich im Schreiben zu üben. Sonst hätte er vielleicht noch einmal darüber nachgedacht, wie glaubwürdig Kamala Harris als kommunistische Putschistin ist und ob sich Bill Gates wirklich für die Mission hergegeben hätte, die ihm in diesem Buch zugedacht worden ist.
Es bleibt die Erkenntnis, dass Autoren nicht über Nacht geboren werden, und dass man einen Thriller wie diesen man nicht aus dem Ärmel schüttelt (ausser vielleicht, man ist tatsächlich ein verkanntes Genie). Dafür muss man lange trainieren, sei es mit kürzeren Geschichten, Reportagen, Blogs oder Manuskripten, die in der Schublade liegenbleiben.
Kein Roman, sondern eine Handlungsanweisung
Das zweite Problem mit diesem Buch ist in Dirk Rossmanns Motivation zu suchen. Die gibt er im Epilog preis, wo er unverblümt schildert, dass die Idee während einer Skatrunde entstanden ist, bei der auch der ehemalige Bundeskanzler Gerd Schröder zugegen war. Rossmanns Plan war nicht, ein Thriller mit einer ökologischen Botschaft zu schreiben – sondern umgekehrt, ein ökologisches Pamphlet als Thriller zu verpacken. Und das merkt man dem Buch an. Es geht darum, den Rettungsplan der G3 zu propagieren und der Welt als ihre beste Option schmackhaft zu machen.
Ich gehe davon aus, dass Rossmann dabei ist, diesen Plan umzusetzen, so wie er es im Epilog andeutet: Er hat sein Buch Gerd Schröder zum Lesen gegeben. Und da der ehemalige Bundeskanzler zu den Vertrauten Vladimir Putins gehört, ist seine Aufgabe, dort für den Rossmann’schen Weltrettungsplan zu lobbyieren. Dann braucht Putin nur noch Xi Jinping zu überzeugen und Kamala Harris Präsidentin zu werden, und der Kessel ist geflickt.
Nur leider funktioniert Weltrettungsliteratur so nicht. Darum keine Empfehlung. Auch wenn ich hier sehr gerne dargelegt hätte, wie ich in einem Buch aus dem Pulp-Fiction-Roman den Schlüssel zur Rettung unserer Welt entdeckt habe…
Beitragsbild: Der neunte Arm (Beth Macdonald, Unsplash-Lizenz).
…es war bei den RomanistInnen nicht anders – darum habe ich mich so weit wie möglich auf die Sprachwissenschaft (und auf die Anfänge der Computerlinguistik) konzentriert, was für mich in der Folge in der Informationswissenschaft sehr nützlich war 😉