Heisse Schlüssel und psychogene Pilze

«Die dunkle Seite des Mondes» ist Buch, in dem ich mich heimisch gefühlt habe. Ein Tech-Thriller ist es indes nicht. Es ist sogar so, dass Martin Suter in Sachen Computertechnologie Nachhilfe gebrauchen könnte.

Zugegeben: Dieses Buch in der Kategorie Nerdliteratur abzufeiern, lässt sich nur sehr schwer verargumentieren: Die Hauptfigur ist ein Anwalt (und hätte damit gut in diesen Blogpost gepasst), aber er ist kein Nerd. Urs Blank ist Experte für Fusionen. Er wird zum Pilzliebhaber und ist eine Art Vorläufer von Christopher McCandless (leider ohne den tollen Soundtrack).

Und er ist eine Nulpe, was Computer anbelangt. Er interessiert sich nicht für sie und kann auch dem Internet nichts abgewinnen, weil dort ein Überangebot an Informationen herrscht. Nun kann man zu Recht behaupten, dass auch ein Wirtschaftsanwalt sich wohl kaum ums Internet foutieren kann. Doch zur Ehrenrettung sei gesagt, dass das Buch im Jahr 2000 geschrieben wurde und dass das Ignorieren damals noch ging. Vor allem, wenn man einen Assistenten namens Christoph Gerber und eine Sekretärin wie Petra Decarli hat.

In der Verfilmung von 2015 begibt sich Moritz Bleibtreu auf Pilzsuche. (Bild: Alamode/Film.de)

Gut, ich werde deswegen gar nicht probieren, die Rubrizierung in diesem Blog zu rechtfertigen. Der Computeraspekt ist nämlich das schwächste Faktum in diesem Buch, das ansonsten toll recherchiert ist und (soweit ich das beurteilen kann) akkurat über Pilze, Waldkräuter, -gemüse, die Jagd und das Leben als Eremit informiert. Doch wie Urs Blank nach seinem Abtauchen in seinen jetzt vom nachgerückten Assistenten benutzten Computer eindringt, ist fragwürdig.

Petra Decarli setzte sich in einen Besucherstuhl. «Er besass einen hot key

Er benutzt nämlich eine Tastenkombination, mit der man das Passwort umgeht. Ein solches Ding gibt es bei den Standardbetriebssystemen nicht, und beim Computer in einer Anwaltskanzlei müsste das extrem verpönt sein. Um ohne Passwort in einen ansonsten passwortgeschützten Computer hätte Martin Suter seinem Protagonisten ein zweites Benutzerkonto anbieten können: Eines ohne Passwortschutz, das aber trotzdem Zugang zum Dateiserver der Kanzlei eröffnet. (Auch eine solche Installation müsste vom Compliance Officer aufs Vehementeste angeprangert werden.)

Bildcode? Pin? Meinetwegen auch Biometrie

Heute, in Zeiten von Windows 10, könnte man sich auch den Bildcode oder eine Anmeldungs-PIN als Hintertür zum Computer vorstellen. Aber die gab es 2000 natürlich noch nicht. Trotzdem: Wenn Martin Suter mal wieder einen Hightech-bezogenen Story-Kniff zu lösen hat, stehe ich gern mit Vorschlägen zur Verfügung.

Das Buch, um das es hier geht, heisst Die dunkle Seite des Mondes (Amazon). Es stammt von Martin Suter, wird im Hörbuch vom hervorragenden Gert Heidenreich gelesen und ist auch verfilmt worden.

Die Geschichte ist ein gefundenes Fressen für Germanisten. Der Wirtschaftsanwalt Urs Blank – Achtung Spoiler! – steckt scheinbar in der Midlife Crisis, denn er lacht sich eine junge Freundin an. Lucille Roth eröffnet ihm eine andere Welt, nämlich die der Drogen und des ungezwungenen Lebens. Ihr verdankt das Buch auch seinen Titel. Er ist eine Anspielung an The Dark Side of the Moon, das Drogen-Album von Pink Floyd, das zwar zu Urs Blanks Generation gehört, aber thematisch viel besser zu Lucille und ihren Hippiefreunden passt.

Das deutet es schon an: Lucille führt Urs Blank zu sich selbst. Sie lässt sich für ein Wochenende mit Schwitzhütte, freier Körperkultur und einem Psilocybin-Trip mit halluzinogenen Pilzen begleiten. Dort erwischt Blank nebst den beabsichtigten spitzkegeligen Kahlköpfen auch ein safrangelbes Samthäubchen, das bei ihm fatale Folgen hat. Ihm kommt die zivilisatorische Schutzschicht abhanden. Er beleidigt die Leute, wo er geht und steht, und er verwendet per sofort auch Mord und Totschlag als valables Mittel der Konfliktlösung.

Tot im Waldboden

Das ist ein Problem bei der Arbeit und auch im Privatleben. Blank merkt selbst, dass es so nicht weitergehen kann. Er versucht, sich von seinem Freund, dem Psychiater Alfred Wenger therapieren zu lassen. Als das nicht gelingt, setzt er sich ab. Und versinkt am Schluss, nachdem er einen archaischen Kampf gegen seinen Widersacher, den auch nicht sehr zivilisierten Jäger und Wilderer Pius Ott verloren hat, tot im Waldboden…

Klar, die Topoi sind hier auch nicht besser versteckt, als ein notdürftig von etwas Unterholz getarnter Steinpilz: Es geht um Zivilisation versus die rohe Natur des Menschen, die Verantwortung, die auch ein Waldmensch (oder Natur-Nerd) wie Urs Blank trotzdem fühlt und den Lebensraum des Waldes, der für viele von uns, die wir (anders als Urs Blank) gern am Computer sitzen, doch so etwas wie zu einem Sehnsuchtsort wird. Klar, das ist auch nur unsere Projektion, wie man erfährt, wenn Blank im Wald mal wieder so richtig bis auf die Knochen verschifft worden ist.

Aber sei es drum. Ich habe die Geschichte gern gelesen. Die Sprachsicherheit, die schönen Beschreibungen und einleuchtenden Gefühlswelten haben mir geholfen, mich in dem Buch heimisch zu fühlen. Am Schluss hat mir eine überraschende Wendung gefehlt – ein plötzliches Abdriften zu einem Wirtschaftsthriller, beispielsweise aufgrund der angedeuteten Insidergeschäfte von Urs Blanks Partnern, hätte ich vollends überzeugt.

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