Um dieses Paralleluniversum mache ich lieber einen Bogen

«1Q84» von Haruki Murakami beginnt viel­ver­spre­chend. Und lässt dann so stark nach, dass ich ge­zwungen bin, einen epi­schen Ver­riss über dieses lang­at­mige und ver­schro­bene Buch zu schrei­ben.

Menschenskinder, hat dieses Buch meine Geduld strapaziert!

1 Buch von 1 Geheimniskrämer.

Ich spreche von 1Q84 von Haruki Murakami, das theoretisch exakt meinem aktuellen Lesebedürfnis hätte entsprechen sollen. Erstens geht es um parallele Universen. Das ist ein Thema, das mich interessiert und das spannende Geschichten hergibt – mit oder ohne Sciencefiction-Touch. Zweitens wird das Buch überschwänglich gelobt: Wikipedia zitiert positive Rezensionen von FAZ, «Die Zeit», «Süddeutsche Zeitung», NZZ und TAZ.

Darum gibt es an dieser Stelle nicht nur die Erkenntnis, dass «1Q84» ein Schinken ist, den wir besser im Regal des Buchladens stehen lassen. Sondern auch, dass die Buchkritiker bei diesen grossen Zeitungen allesamt keine Ahnung haben.

Mein Unmut mit dem Buch lässt sich auf ein Zitat herunterbrechen:

Warum nicht einfach nach Hause gehen, eine Flasche Rotwein öffnen, masturbieren und schlafen? Das war das Beste. Und sie würde aufhören, über den Mond nachzudenken.

Gemeint ist die Hauptdarstellerin, Masami Aomame. Sie hat ein seltsames Phänomen festgestellt: Der Mond hat eine Tochter erhalten, ein zweiter Mond, der klein und unscheinbar in seiner Nähe hängt und ein Anzeichen dafür ist, dass sich Aomame nicht mehr in ihrem angestammten Jahr 1984 befindet, sondern in einer Art Abspaltung davon, die sie in Ermangelung einer besseren Bezeichnung «1Q84» nennt.

Wenn das eine Geschichte wäre, die meinen Nerv getroffen hätte, dann hätte Aomame nicht aufgehört, über den Mond nachzudenken. Sondern alles daran gesetzt, dieses Geheimnis aufzuklären.

Da passt nichts zusammen

Das hätte in Form eines Thrillers, einer Sciencefiction- oder Fantasy-Geschichte passieren können. Doch während «1Q84» zwar gewisse Anleihen einer Kriminalgeschichte hat, ist es im Kern am ehesten ein Märchen. Mit diesem Genre passt es nicht zu meinen Vorlieben: Ich mag Bücher, die Dinge schlüssig erklären und die ich mit Logik angehen kann. Der Autor hingegen schätzt anscheinend eine geheimnisvolle Handlung. Er will, dass übernatürlichen Dinge sich dem Verständnis der Leser und die Leserin entzieht. Das soll herausfordern und vielleicht sogar provozieren.

Nun bin ich einem modernen Märchen nicht prinzipiell abgeneigt. Allerdings fand ich bei diesem Buch gerade diese mystischen Elemente am wenigsten überzeugend. Das mag an der deutschen Übersetzung liegen. In der gibt es diverse Anglizismen, die furchtbar quer in der Landschaft stehen. Warum sind die Englisch?

Mit einer schnellen Recherche habe ich keine Antwort auf die Frage gefunden. Es könnte sein, dass die auch im japanischen Original vorkommen, weil Murakami gern westliche Kultur und Sprache in seine Bücher einfliessen lässt. Oder vielleicht handelt es sich um eine Notlösung des Übersetzers, weil sich ein japanisches Stilmittel des Autors in der Übersetzung nicht direkt vermitteln liess.

Diese seltsamen Anglizismen

Zu diesen Anglizismen gehören übernatürliche Wesen, die «Little People». Sie steigen aus dem Mund einer toten Ziege und können Luftchrysalide weben. Das sind dünne Fäden, die als Portal bzw. Verbindung zwischen den parallelen Welten dienen. Diese «Little People» erschaffen gegen Ende von einer der Hauptfiguren, Eriko Fukada, genannt Fukaeri, eine Art Abbild, die mit dem doppelten Mond korrespondiert.

Das Original heisst nun «Mother» und das Abbild «Daughter». Und als ob das nicht sperrig genug wäre, werden Personen weiterhin zu «Perceivern» und «Receivern». Wem das nach esoterischem Blabla klingt, dem geht es wie mir.

Und klar, nicht jedes Buch muss fantastische Dinge auf eine hyperrealistische Weise erzählen. Ich nehme an, es geht Murakami mehr um die Stimmung als um die intellektuelle Befriedigung. Er baut seine Gefühlswelten mit einer solchen Inbrunst auf, dass das Buch satte 1024 Seiten umfasst.

Ich kapiere schon, dass es in einem Buch, in dem die Einsamkeit ein prägendes Motiv ist, schmissige Dialoge fehl am Platz wären. Aber müssen es trotzdem derartig viele, ewiglange innere Monologe sein? Müssen die Biografien der Hauptfiguren derartig ausgewalzt werden? Die Handlung dieser Geschichte hätte sich locker auf 150 Seiten erzählen lassen.

Brüste auf jeder zweiten Seite

Störend an diesem Buch sind die unzähligen sexuell konnotierten Passagen. Wie oft die Figuren sich mit Brüsten beschäftigen, geht auf die Haut keiner toten Ziege. Aomame hat eine obsessive Fixierung auf ihre eigenen Brüste. Tengo, die zweite Hauptfigur, gibt sich gern mit den Brüsten jener Frau ab, die er nur «seine verheiratete Freundin» nennt, die ihrerseits nichts toller findet, als ihm (wortwörtlich) die Hoden zu quetschen.

Ich verstehe auch, dass diese sexuellen Obsessionen zu den Charakterisierungen der Figuren gehören und Murakami es darauf anlegt, den prüden Teil der Leserschaft ein wenig zu provozieren.

Ich zähle mich nicht zu denen, die bei einer intimen Passage rot werden. Im Gegenteil. Aber das Wie der Schilderungen hat mich hier schon sehr unangenehm berührt. Mein Eindruck: Der Autor lebt seine eigene Obsession aus.

Die Beschreibung, wie Tengo mit Fukaeri Sex hat, ist für meinen Geschmack eine Grenzüberschreitung. Denn Fukaeri ist in der Geschichte erst 17 Jahre alt, wird aber wie ein deutlich kleineres Kind geschildert. Das rückt eine lange, lustvolle Passage in ein sehr schräges Licht:

Er war nackt, als er erwachte, und Fukaeri war es auch. Völlig und vollkommen nackt. Ihre Brüste waren perfekte Halbkugeln. Ihre Brustwarzen waren nicht übermässig gross, und sie waren weich, noch leise tastend nach der Reife, die kommen sollte. Ihre Brüste selbst waren jedoch gross und voll ausgereift.

Da kommt noch viel mehr im gleichen Tonfall, aber das erspare ich euch. Man kann natürlich auch das ungebührliche Verlangen künstlerisch-literarisch verschwurbeln, aber man muss nicht unbedingt. In meinem Fall hat es dazu geführt, dass ich jegliches Mitgefühl mit Tengo verloren habe und ihn ab dieser Passage für ein scheinheiliges Arschloch hielt. Was wohl nicht Sinn der Geschichte war.

Fazit: Wenn das hohe Literatur ist, dann ist mir Pulp Fiction lieber.

J.K. Rowling kann es besser

Randbemerkung: Mir sind gewisse Parallelen zu dem kürzlich besprochenen Buch «The Running Grave» («Das strö­mende Grab») von Robert Gal­braith aufgefallen. Ich würde eine Wette eingehen, dass J.K. Rowling«1Q84» ebenfalls gelesen hat. Es gibt in beiden eine esoterisch angehauchte Sekte und einen charismatischen Sektenführer, dessen Tochter eine wichtige Rolle spielt. Bei «1Q84» heisst die Sekte «Die Vorreiter», der Sektenführer (bzw. anglizistisch «Leader») Tamotsu Fukada, und wie in «The Running Grave» gibt es in der Sekte sexuellen Missbrauch an Minderjährigen.

Sollte ich die Wette gewinnen, dann ist eines klar: Wenigstens J.K. Rowling wird diesem Stoff gerecht, und ihre Umsetzung ist nicht nur stringent, sondern auch um Welten fesselnder.

Beitragsbild: Aomame beim Rotweintrinken (Dall-e 3).

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