Wann taucht die ertrunkene Prophetin wieder auf?

«The Running Grave» («Das strö­mende Grab») von Robert Gal­braith ist das Krimi-High­light des Jahres: Robin Ella­cott und Cor­mo­ran Strike ermit­teln im Sek­ten­mi­lieu und bringen einen Guru zu Fall.

Das ist eins dieser Bücher, die ich mit dieser seltsamen inneren Zerrissenheit durchquert habe: Zum einen fiel es mir schwer, wieder aus dieser Geschichte aufzutauchen. Zum anderen hatte ich das Gefühl, sie dosieren zu müssen wie die letzte Tafel Schokolade¹ auf der Welt – um so lange wie möglich etwas davon zu haben. Und nun sollte ich an dieser Stelle schreiben, woran das liegt. Dabei, um ehrlich zu sein, habe ich nur eine vage Ahnung.

Natürlich, die oberflächliche Erklärung ist einfach: Die Geschichte entwickelt einen unerbittlichen Sog, obwohl sie so harmlos anfängt: Will Edensor, der jüngste Spross aus einer Adelsfamilie, hat sich in jugendlicher Unvernunft einer Sekte angeschlossen. Die Universal Humanitarian Church (UHC) erscheint vernünftigen Leuten zwar reichlich schräg, aber mehr auch nicht: Es gibt einen charismatischen Führer namens Jonathan Wace, der den Sektenmitgliedern ehrfurchtsvoll Papa J genannt wird. Der wiederum hat eine Frau namens Mazu Wace und eine Stieftochter Daiyu, die als Kind ertrunken ist. Und ja, schräg ist vielleicht doch etwas untertrieben, weil die Sekte dieses Unglück instrumentalisiert. Aus Daiyu wird the drowned prophet, also eine Figur, die die Erleuchtung erlangt hat und deren Anwesenheit auf der Erde daher nicht mehr notwendig war.

Etwas für oben und unten

Damit sind wir bei einem zweiten Punkt der Erklärung: Die Erzählung, auf die wir uns einlassen, ist weitläufig, mit vielen exzentrischen Charakteren – wer die Übersicht verliert, sollte sich ein Lesezeichen dieser Seite hier anlegen. Die Beziehungen dieser Leute sind komplex und auch die Chronologie der Ereignisse fordert uns als Leserinnen. Mit anderen Worten: Es gibt reichlich Nahrung für den Kopf.

Der Bauch – wenn wir der Einfachheit halber die Gefühle einmal in dieser Körperregion verorten wollen – geht auch nicht leer aus: Wir bekommen es mit dramatischen Wendungen: Robin Ellacott beschliesst, sich als «Rowena Ellis» in die Sekte einzuschleusen und dort verdeckt zu ermitteln. Was sie dort erlebt und erleidet, weckt Wut, Ablehnung, Abscheu – und natürlich auch das Gefühl der atemlosen Spannung. Die UHC lässt ihre Gefolgsleute Frondienst leisten, hungern und nicht nur psychischen, sondern auch physischen Missbrauch erdulden. Ich würde gerne eine Rezension meines ehemaligen Tagi-Kollegen Hugo Stamm von diesem Buch lesen. Aber ich bin überzeugt, dass er viele der geschilderten Mechanismen als authentisch für Sekten mit totalitären Zügen beurteilen würde. Grossartig finde ich die orwellsche Umfunktioniertung der Sprache. Verwandte werden zu Flesh objects und Besitztümer zu material posessions, um nur zwei Beispiele aus der ausgeklügelten UHC-Terminologie zu erwähnen.

Wann endlich reden sie Klartext?

Der Titel ist eine Anspielung auf ein Gedicht von Dylan Thomas.

The Running Grave (Amazon Affiliate) bzw. zu Deutsch Das strömende Grab ist der siebte Fall in der Cormoran Strike-Reihe von Robert Galbraith alias Joanne Rowling. Und er ist rundum gelungen: Das Milieu der Sekte ist perfekt für einen verzwickten Plot, bei dem am Schluss alles ein bisschen anders ist, als erwartet. Es gibt Drama auch in den nebengelagerten Handlungssträngen, wo Cormoran Strike einmal mehr ungeschickte Entscheidungen bezüglich seines Liebeslebens trifft (Stichwort Belinda «Bijou» Watkins) und, ohne es zu beabsichtigen, dazu beiträgt, dass eine Versöhnung mit seiner langjährigen On-Off-Beziehung Charlotte Campbell zu einem Ding der Unmöglichkeit wird. Und auch wenn Strike nichts mehr von ihr wollte, war sie – wir wissen es – jemand, der zwischen ihm und Robin Ellacott stand. Das heisst nichts anderes, als dass die beiden Partner im achten Band nicht darum herumkommen werden, Klartext über die Trennung von beruflichen und privaten Dingen zu reden.

Fazit: Der Vorgänger vom letzten Jahr, «The Ink Black Heart», hatte mich nicht komplett überzeugt. Doch mit «The Running Grave» macht Robert Galbraith alles wett: Bei diesem Buch stimmen Stimmung, Handlung, Figuren und Erzählstil. Kritisieren könnte man, dass das Ende knapp ausfällt. Beim ausführlichen Erzählstil, den uns Galbraith angedeihen lässt – und für den wie für die eingangs erwähnte Schokolade gilt, dass mehr eindeutig besser ist – hätte der Epilog noch weitschweifiger ausfallen dürfen. Was ist aus den Leuten geworden, die Robin in der Kirche antrifft? Wie ging es mit Ted Nancarrow weiter? Wie hat sich Flora Brewster erholt? Und so weiter.

Trotzdem: «The Running Grave» ist ein triftiger Grund, in die Cormoran Strike-Reihe einzusteigen – und wer die Serie kennt und mag, wird eh nicht von dem Buch lassen können. Novizen sei geraten, unbedingt auch alle vorherigen Bücher zu lesen. Und sich dabei so viel Zeit zu lassen, wie irgendwie möglich ist.

Fussnoten

1) Jeder Bezug zu Läderach wäre im nachfolgenden Kontext natürlich rein zufällig.

Beitragsbild: Zugegeben – dieses Foto stammt noch aus älteren Tagen und aus der Verfilmung von «Troubled Blood» (BBC Media Centre).

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