Die irre Zukunftsvision von 1966

Haben die Schwei­zer Zeitungen die Be­deu­tung von PC und Heim­com­pu­ter erkannt? Nein, die grossen Medien haben auch diese Re­vo­lu­tion ver­schlafen. Bis auf ein Blatt, dass vor 60 Jahren mit seiner Prog­nose haar­ge­nau be­schrie­ben hat, wie wir heute leben.

Der Begriff «Personal Computer» hat sich gemäss Wikipedia in den 1980er-Jahren im Sprachgebrauch etabliert, was damals IBM zu verdanken war. Das Technologie-Unternehmen hat 1981 den IBM PC auf den Markt gebracht, und mit dieser Rechenmaschine mit dafür gesorgt, dass sich der Computer von einer hoch spezialisierten Maschine zu einem Gerät für die Masse gewandelt hat.

Der Begriff existierte zwar schon früher, wurde bei seinem ersten Auftreten aber in einem spekulativen Kontext benutzt: 1949 hat sich ein britischer Journalist ausgemalt, wie Computer dereinst so einfach und handlich sein würden, dass auch die «einfachen Leute» damit würden arbeiten können. Das war visionär. Darum hat mich interessiert, ab wann hierzulande über derlei Zukunftsperspektiven nachgedacht worden ist.

Massive Schnarchnasen

Meine früheren historischen Recherchen haben bislang immer die gleiche Erkenntnis zutage gefördert: Die Schweizer Medien waren in Belangen der Computertechnologie massive Schnarchnasen. Die Zeitungsmacher haben Meilensteine auch dann nicht zur Kenntnis genommen, wenn in ihrer eigenen Zeitung schon fleissig dafür Werbung gemacht worden ist. Und wenn sie sie dann auf dem Radar hatten, haben sie das Potenzial nicht erkannt, sondern lieber einen abfälligen Tonfall angeschlagen.

Als ich in Sachen «Personal Computer» einen Ausflug in die Archive unternommen habe, hatte ich einen Moment der Freude. Es sah so aus, als würden sich die Schweizer Medienschaffenden rehabilitieren können. Ich habe den Suchbegriff nämlich in einer Ausgabe der NZZ vom 16. August 1950 entdeckt: Nur ein Jahr später, nachdem der britische Journalist den PC zumindest konzeptionell erfunden hatte.

Kein Happy End

Beim genauen Hinsehen ist meine Freude verpufft. Die Zeitungsseite ist in der Schweizer Mediendatenbank SMD leider falsch datiert. Sie stammt vom 1. Februar 1988 und ist somit keine Pionierleistung. Der erste echte Treffer in der NZZ stammt vom 9. Oktober 1979. Das ist nicht visionär, aber auch nicht sträflich spät.

Und die NZZ darf sich rühmen, eine progressive Form der Informationsvermittlung gefunden zu haben. Das Stück ist als FAQ (Frequently Asked Questions) aufbereitet. Diese Darbietungsweise zählt heute zu den modernen Varianten des Storytellings.

Wie kauft man einen Personal Computer?

Plötzlich spricht jeder über eigene Computer. Möchten Sie sich genauer informieren? Nun, der beste Weg wäre, die Broschüre über Apple II zu lesen. Sie wird Ihnen offene Fragen beantworten und Ihnen zeigen, welche Möglichkeiten ein eigener Computer bietet, und wieviel Spass man mit ihm haben kann. Und sie wird Ihnen helfen, Ihren persönlichen Computer zu wählen.

Wer benutzt Personal Computer?

Tausende von Menschen haben den Apple II Computer bereits entdeckt – Geschäftsleute, Lehrer, Studenten, Schüler und Hobbyisten – sie verwenden ihre Apple II Systeme für Planungsaufgaben, Statistiken, für Ihre Buchhaltung und Lagerverwaltung, für komplexe wissenschaftliche Problemlösungen oder auch nur zum eigenen Vergnügen. Und das ist erst der Anfang.

Worauf muss man achten?

Wenn Sie erst einmal die Leistungsfähigkeit Ihres eigenen Computers entdeckt haben, soll das System mit Ihren neuen Anforderungen auch wachsen können. Ein Hauptfaktor, der beim Kauf eines Computers auch wirklich zählt. Sie wollen sich nicht durch vorprogrammierte Kassetten in Ihrem Anwendungsbereich einschränken lassen, Sie wollen den Apple II, den Sie auch selbst programmieren können und der für die kommende Computer-Sprache Pascal UCSD vorbereitet ist.

Noch immer kein Happy End

Wenn ihr an dieser Stelle den Vorwurf erhebt, das klinge wie eine Werbung, dann muss ich euch bedauerlicherweise recht geben. Es handelt sich um ein Inserat; geschaltet von Apple selbst. Der erste Beitrag im redaktionellen Kontext stammt, falls ich keinen übersehen habe, vom 7. Februar 1980. Im Lokalteil wurde auf eine Veranstaltung hingewiesen:

Die Firma J. F. Pfeiffer AG nimmt sich ihrer nun im Bürofachhandel an und zeigt bis am 8. Februar an einer Ausstellung im Hotel International in Oerlikon die Möglichkeiten des von ihr in der Schweiz vertriebenen «Luxor ABC 80», einer aus Schweden stammenden Anlage, in gutem EDV-Deutsch als Personal Computer bezeichnet, weil sie so handlich und preiswert ist, dass sie als persönliches Arbeitsgerät der Sekretärin, des Ingenieurs, des Lagerverwalters, des Arztes und so fort verwendet werden kann, sich aber auch in Verbindung mit grösseren EDV-Anlagen einsetzen lässt.

Laaang hat es gedauert, bis der Personal Computer auch im redaktionellen Teil angekommen ist.

Damit bleibt es dabei: Die Schweizer Medien – zumindest diejenigen, die ich über die digitalen Archive untersuchen konnten – haben auch diese Entwicklung verschlafen. Der erste echte grosse Artikel zum Personal Computer erschien in der NZZ am 27. Oktober 1982:

Personal Computer sind ausgebaute und sehr einfach zu bedienende Kleincomputersysteme, die den Ansprüchen eines breiten Anwenderkreises genügen können. Der allgemeine Begriff «Kleincomputer» bezieht sich in erster Linie auf die äusseren Abmessungen des Computersystems und auf keinen Fall auf seine Leistungsfähigkeit. Die Firma IBM verkauft heute bereits mehr «computer-power» als Personal Computern denn mit ihren grossen Systemen. Einige Personal Computer weisen Leistungsmerkmale auf, die in den frühen siebziger Jahren von Grosscomputern erreicht wurden.

Nach mehreren Enttäuschungen darf ich diesen Blogpost dennoch einem Happy End zuführen. Ich habe auch nach dem Heimcomputer gesucht und darf bei dem eine Pionierleistung vermelden. Dieser Begriff kam in ungefähr der gleichen Zeitspanne auf wie der Personal Computer. Die ersten Modelle kamen schon etwas früher auf den Markt, nämlich 1977. Der bereits erwähnte Apple II ist eigentlich mehr Heimcomputer als PC, und er gehört zu den Wegbereitern dieser Geräteklasse.

Hey – ein Happy End!

In einem Schweizer Medium ist aber schon mehr als zehn Jahre früher über Heimcomputer berichtet worden. Am 17. Juni 1966 konnte man im «Wir Brückenbauer» unter dem Titel «Das Heim der Zukunft» eine Art Essay zu den USA lesen:

«Hey Siri, gib mir einen Flashback in die 1960er.»

Der Trend zum eigenen Haus auf eigenem Grund beginnt rückläufig zu werden. Darum ist wichtig, wie sich das Leben in einer Miet- oder Eigentumswohnung in einem der künftigen Mammut-Wohnhäuser gestalten wird. Der Kern, das Gehirn und das «Gewissen» dieser Wohnung ist der Heim-Computer, etwa von der Grösse einer Schreibmaschine, der ebenso vom Hauseigentümer beigestellt und instandgehalten wird, wie heute etwa der Kühlschrank. Für diesen Heim-Computer wird man keine eigenen «Programmierer» brauchen, die die Sprache der Menschen in die der Computer übersetzen, denn der Heim-Computer wird Gedrucktes, Maschinengeschriebenes und selbst halbwegs leserliches Handschriftliches lesen und selbst «übersetzen» können.

Dass dieser Heim-Computer die Wirtschaftsbücher und ihre etwaigen Aufzeichnungen für das Familienbudget und für die Steuern führen wird, versteht sich wohl von selbst. Er wird aber darüber hinaus automatisch über das Bankkonto der Familie alle Zahlungen anweisen, wenn sie fällig werden. Ferner wird der Computer die Familie an sonstige wichtige, vor allem aber an regelmässig wiederkehrende Termine erinnern wie etwa ärztliche Untersuchungen, Autoüberprüfung und -Wartung.

Der Heim-Computer wird nach den Wünschen der Familie Klima, Beleuchtung, Beheizung und etliches mehr für jeden Raum des Familienheimes automatisch regeln. Er wird Fernseh- und Rundfunkprogramme, die laufen, wenn niemand daheim ist, aufzeichnen, aufspeichern und auf Wunsch Stunden, Tage, Wochen und selbst Jahre später abspielen. Das schliesst auch die Zeitung der Zukunft mit ein, die nicht mehr gedruckt ins Haus kommt, sondern über Fernsehen, und von dort, aber nur wann und wie gewünscht, im Lichtpausverfahren abgenommen werden wird.

Wer durch den Heim-Computer am stärksten entlastet werden wird, ist die Hausfrau. Vor allem wird sie nicht mehr kochen müssen, wenn man Hunger hat, sondern dann, wenn es ihr Spass macht. Die von ihr zusammengestellten Speisen werden je nach dem Familienrezept halb- oder ganz fertig, gemischt oder ungemischt, zuerst entwässert, dann im Tiefkühlschrank — der aber nicht mehr in der Wohnung, sondern irgendwo im Keller steht — aufbewahrt. Die Hausfrau braucht dann dem Computer nur die Speisenfolge für den betreffenden Tag, die Woche, ja vielleicht für den ganzen Monat «einzugeben», der Computer sorgt dafür, dass sie in der gewünschten Zubereitung, in der gewünschten Form, vor allem aber zur gewünschten Minute genussfertig bereitstehen. Der Computer wird auch dafür sorgen, dass die «Grundstoffe» der Küche niemals ausgehen, denn er führt nicht nur darüber «Lagerbuchhaltung», sondern sorgt auch automatisch beim Händler für Nachbestellung und Nachlieferung.

Das Heim der Zukunft wird neben dem Computer auch noch andere Neuheiten aufweisen. Vor allem aber werden Kleidung und Schuhe schon beim Betreten des Hauses in der Eingangshalle entstaubt, vom gröbsten Schmutz gereinigt und tunlichst keimfrei gemacht. Wer dann in der Wohnung sich der Kleider entledigt, braucht sie nicht wegzuräumen. Sie werden in eine Zimmerecke geschleudert, von dort «weggesaugt», nun ganz gründlich gereinigt und tragfertig gemacht und automatisch in Schränke befördert, die wieder nicht in der Wohnung, sondern irgendwo im Keller stehen. Wer später einmal das gleiche Kleidungsstück wieder anziehen will, fordert es durch den Heim-Computer an, und dieser sorgt für Lieferung.

Grossartig, oder nicht?

Fast alles davon ist Realität, ausser der kochende und waschende Computer. Ansonsten stecken hier viele Funktionen von iPhone und Amazon drin. Wenn wir grosszügig sind, sind auch das Smart-Home und Netflix – oder zumindest Replay-TV – zu erkennen. Das Internet wird nur implizit beschrieben. Irgendwie können diese Heimcomputer kommunizieren, ohne dass sich der Autor darüber Gedanken gemacht hat, wie sie das tun würden. Und dass die Computer vom Vermieter gestellt werden, hat sich zum Glück auch nicht bewahrheitet.

Kennt jemand von euch R. W.?

Apropos Autor: Er wird nur mit den Initialen R. W. angegeben. Ein Impressum habe ich nicht gefunden. Falls jemand weiss, wer R. W. sein könnte, würde ich mich über eine Rückmeldung freuen. Falls dieser Visionär oder diese Visionärin noch am Leben ist, würde ich gerne mit ihm oder ihr ein Gespräch dazu führen.

Beitragsbild: So schön wie damals wird es nie gewesen sein (Microsoft Image Creator zum Prompt «A 1960s-style apartment in which a home computer stands prominently, with a happy housewife typing in instructions. The look of the picture is also intended to reflect the 1960s»).

One thought on “Die irre Zukunftsvision von 1966

Kommentar verfassen