Die schäbigste App, die ich seit langem gesehen habe

Mit der NGL-App empfangen wir anonym Mit­tei­lungen aus dem Freundes- und Bekann­ten­kreis und können über die sozialen Medien in einen Dialog mit den Inkog­ni­to-Per­so­nen treten.

Auf Twitter bin ich neulich der Frau @Hoellenaufsicht begegnet – grossartiger Handle, übrigens! –, die geschrieben hat, man dürfe ihr anonym Fragen stellen. Weil es mit der Anonymität auf Twitter nicht weit her ist, verwendet sie ngl.link (fürs iPhone und Android). Ich habe mir die App angeschaut und werde ich durch folgendes Leitbild überrascht:

Wir glauben, dass Anonymität einen lustigen und sicheren Raum eröffnen kann, in dem wir unsere Gefühle und Meinungen ohne Scham ausdrücken dürfen.

«Lustig» ist nicht der erste Begriff, der zum Thema einfällt. Ich denke an Whistleblower und an Oppositionelle und Regimekritiker, die die Anonymität nicht zum Vergnügen und als Freizeitbeschäftigung betreiben, sondern zum Schutz ihres Lebens oder zumindest ihrer Karriere.

Ich werde nicht lügen (vermutlich)

Trotzdem, ein interessanter Ansatz, wenngleich nicht neu. Vor zehn Jahren waren Apps im Trend, die das Internet in eine Art virtuellen Beichtstuhl verwandelt haben. Dunkle Geheimnisse gehören ins Netz, lautete die Erkenntnis, nachdem ich Post Secrets, Whisper und iConfessions ausprobiert hatte.

Im Vergleich zu denen weist NGL – das Kürzel steht für «Not gonna lie», ich werde nicht lügen – zwei wesentliche Unterschiede auf: Erstens geht es um Mitteilungen aller Art, nicht nur um Geständnisse: Die Intention ist, dass wir «Gefühle ohne Urteile von Freunden oder gesellschaftlichen Druck» äussern. Zweitens ist die Anonymität nur einseitig, nicht zweiseitig wie bei Post Secrets, wo Schreiber und Leserinnen unerkannt blieben. Bei NGL hingegen gibt man sich als Empfänger zu erkennen und öffnet sein öffentliches Postfach für alle. Meines findet ihr unter ngl.link/mrclicko.

Ein paar Klicks reichen

Das Instagram-Handle angeben, reicht: Schon werden via NGL Nachrichten empfangen.

Das Einrichten ist maximal einfach: Die App fragt nach dem Instagram-Benutzername – und das wars schon: Die App holt sich das Benutzerbild von Instagram und liefert den Link zum Postfach zurück, den wir nun unter die Leute bringen können. Der Link führt auf eine öffentliche Website mit einem Eingabefeld, in das jeder, der zufällig vorbeikommt, etwas eintippen kann: Wie versprochen, völlig anonym.

Eine Testbotschaft, die ich mir selbst geschickt habe, kommt umgehend an. Und um die Interaktion zu befeuern, schickt auch NGL gleich zu Beginn einige Nachrichten: «Hast du Haustiere?» – «Datest du jemanden?»

NGL stellt nun auch eine Antwortmöglichkeit zur Verfügung. Die erfolgt öffentlich via Instagram, Twitter oder Snapchat: So kann sich tatsächlich ein Dialog entwickeln, bei dem die eine Hälfte der Konversation anonym bleibt. Das hat ohne Zweifel einen Reiz, indem es die Hürden senkt, unverblümt und ohne Hemmungen zu interagieren.

Ein Spiel mit dem Feuer

Aber ist auch klar, dass es ein Spiel mit dem Feuer ist. Wer sich ansprechen lässt, steht im Licht, aber die im Dunkeln, die sieht man nicht. Das ist nicht nur eine Einladung für Sympathiebekundungen, zu denen manchen Leuten im richtigen Leben der Mut fehlt. Es öffnet auch feigen Attacken aus dem Hinterhalt Tür und Tor.

Darum ist diese App eine problematische Sache. Wenn sie verantwortungsbewusst und respektvoll benutzt wird, gibt es ein Potenzial für spannende Erfahrungen und Einsichten. Aber wenn nicht, dann entwickelt sie sich zu einem Instrument des Mobbings und der Herabwürdigung. Es braucht Selbstbewusstsein und Stärke, sie zu nutzen – ob das für alle Teenager zutrifft, an die sie sich richtet, zweifle ich an.

Wer zahlt, darf die Anonymität aufweichen.

Es kommt ein weiteres Problem dazu, denn mit der Anonymität ist es so eine Sache. Wer nur genügend Anhaltspunkte bietet, macht sich identifizierbar, auch wenn er seinen Namen nicht nennt. Das auch bei solchen Apps der Fall, die Metadaten sammeln, von deren Existenz unerfahrene Nutzerinnen und Nutzer keine Ahnung haben. NGL hat denn auch den Knopf «Wer hat das geschickt?» Wenn man den antippt, wird auch das Geschäftsmodell des Betreibers klar: Mit dem Abo namens «NGL Pro» liefert die App Hinweise auf den Aufenthaltsort, das verwendete Gerät, die NGL-ID und weitere Dinge. Das kostet dann 7.50 Franken pro Woche.

Unlauter und scheinheilig

Damit liegt unser Fazit auf der Hand: Anonymität zu versprechen und das Geld damit zu verdienen, diese Anonymität zu unterlaufen, ist unlauter und scheinheilig. Es lässt uns am Verantwortungsbewusstsein des Betreibers zweifeln und bringt uns (einmal mehr) zum Schluss, dass diese sozialen Medien ein Sumpf sind, in dem man Kinder und Jugendliche nicht allein lassen darf.

Und auch wenn es an dieser Stelle unnötig ist, das noch zu erwähnen: Wir könnten NGL für ernsthafte Kommunikation nutzen, etwa, um heikle Informationen zu empfangen, aber wir sollten das keinesfalls tun. Für Whistleblower gibt es bessere Methoden.

Beitragsbild: Jugendlich zu sein, ist auch kein Pappenstiel – vor allem mit solch vermeintlichen Spass-Apps (Olia Danilevich, Pexels-Lizenz).

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