Der Messias ist schon da – aber viele andere fehlen noch

Was taugt diese Twitter-Alternative für Leute, die bei Twitter rausgeflogen sind? Nach einem Augenschein von Gettr glaube ich nicht, dass die Plattform für Deplatformierte eine Zukunft hat.

Neulich ist mir auf Twitter jener Zürcher Kantonsrat begegnet, der zwar vor einiger Zeit von der Plattform verbannt worden ist, nun dort aber mit einem neuen Account ein Comeback hinlegte. Er hat in einem Tweet erwähnt, er sei auch auf Gettr zu finden, würde dort aber seit vier Monaten nichts mehr schreiben, weil «zu Milieu».

Das hat mein Interesse geweckt. Was meint er mit «zu Milieu»? Der nächste Satz, wonach Facebook «das einzige soziale Medium mit Relevanz» sei, macht es klar: Es ist ihm zu wenig los auf Gettr, bzw. er findet, er habe dort zu wenig Reichweite.

Mich hat das daran erinnert, dass ich mir Gettr schon lange einmal ansehen wollte. Zur Erinnerung: Das ist der Mikrobloggingdienst, der entstanden ist, nachdem Twitter und Facebook vor einem Jahr endlich damit begonnen haben, ihre Verantwortung wahrzunehmen und Leute, die ihre Reichweite zur Aufwiegelung der Massen verwenden, zu sperren.

Gettr verspricht, die Meinungsfreiheit hochzuhalten. Gegründet wurde sie am letzten Nationalfeiertag der USA, am 4. Juli 2021, von Jason Miller, der während Trumps Wahlkampfkampagne von 2016 der Chefsprecher war.

Bei Gettr ist so wenig los, dass man alle Postings live mitverfolgen kann.

Damit steht die Vermutung im Raum, dass dieser Dienst ein Publikum anspricht, der deutlich rechts von der Mitten angesiedelt ist. Das bestätigt sich sofort nach der Anmeldung, wenn Gettr einem Vorschläge macht, wem man folgen könnte: Man begegnet Infowars, Steve Bannon, Spotifys teurem Podcast-Star Joe Rogan und ähnlich illusteren Figuren.

Fake-Account? Nein, verifiziert!

Nach wenigen Klicks treffe ich auch auf Brasiliens Präsident, @JairBolsonaro, bzw. Jair Messias Bolsonaro.

Wegen des zweiten Vornamens vermute ich erst, es handle sich um einen Fake-Account, doch Wikipedia klärt mich auf, dass der tatsächlich Messias lautet – worauf ich nicht umhinkomme, seinen Eltern eine gewisse Schuld für dessen Allüren zu geben. Jedenfalls hat Gettr den Account mit einem Symbol aus rotem Kreis und weissem V ausgestattet, was wohl so viel wie «verifiziert» bedeutet. Deutlichste Anzeichen, dass der Account wahrscheinlich echt ist, liefert die Followerzahl: Bolsonaro hat 538’000 Leute, die seine Nachrichten lesen wollen. Das ist plus/minus die Messlatte für die Top-Liga bei Gettr.

Nach einigen Klicks fällt auf, wer alles nicht bei Gettr ist. Köppel ist absent. Man würde auch damit rechnen, Marjorie Taylor Greene anzutreffen. Das ist eine republikanische Abgeordnete, über die Wikipedia mit gewohnter Zurückhaltung schreibt, sie vertrete «rechtsextreme Ansichten und Verschwörungstheorien». Sie ist genau derentwegen neulich bei Twitter rausgeflogen, sodass Gettr das vorbestimmte Auffangbecken für sie wäre. Wie ich das schreibe, ist sie aber noch nicht aufgetaucht.

Das gilt auch für den Mann, für den Gettr eigentlich gedacht ist – nämlich für Donald Trump. Es gibt zwar einige Scherzkekse, die sich unter diesem Namen angemeldet haben, aber keiner, der hunderttausende Follower und das Verified-Symbol hätte.

Trump hat genügend Instinkt für die Massen, um Gettr zu meiden

Es kann sein, dass sich das noch ändert – vermutlich dann, wenn die Nutzerzahl so weit steigt, dass Claudio Schmid nicht mehr vom «Milieu» spricht. Ich würde darauf aber nicht wetten. Ich glaube eher, dass Gettr eine Totgeburt ist und Donald Trump genügend Instinkt besitzt, um das zu erkennen.

Gettr ist erstens eine schamlose Twitter-Kopie: Das Design der Site, die Funktionen sind so offensichtlich abgekupfert, dass jeder, der kann, lieber das Original benutzen wird.

In diesem Kontext sticht auch Gettrs Hauptargument nicht. Das ist das Versprechen, die Meinungsfreiheit hochzuhalten und «Cancel free» zu sein – sprich, niemand werde für seine Ansichten abgemahnt, egal, wie extrem die auch sein mögen. Liest man die Nutzungsbedingungen, dann ist man erstaunt, wie sehr sich die um die klare Aussage herumdrücken, dass nicht alle NGIs (Nutzergenerierte Inhalte) zulässig sind. So muss ein «NGI nicht aufbewahrt werden», wenn er…

beleidigend, obszön, anstössig, lasziv, schmutzig, pornografisch, gewaltverherrlichend, belästigend, bedrohlich, missbräuchlich, rechtswidrig oder auf sonstige Weise unzulässig oder unangemessen ist, oder um die Rechte Dritter oder diese Bedingungen oder etwaige anwendbare Zusatzbedingungen durchzusetzen…

Das würde ich so ausdeutschen, dass Gettr für seine Nutzer nicht durchs Feuer läuft, wenn die justiziable Dinge posten. Damit lässt sich das implizite Versprechen der totalen Meinungsfreiheit nicht aufrechterhalten. Und auch das andere Versprechen, ein Meinungsplatz der Ideen zu sein, funktioniert nicht, wenn man einen Dienst lanciert, um Leuten, die überall sonst rausgeflogen sind, eine neue sozialmediale Heimat zu bieten.

Wer in seinem eigenen Saft schmoren will, ist auf Telegram besser aufgehoben

Gettr ist eine Kurzform für «getting together», also für ein fröhliches Zusammentreffen. Das könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Für Leute, die sich unter ihresgleichen tummeln und in ihrem eigenen Saft schmoren wollen, gibt es längst eine Alternative; nämlich Telegram. Eine Plattform, die den Meinungsaustausch pflegen will, sich aber nur an Gleichgesinnte richtet, funktioniert nicht. Claudio Schmids Bezeichnung «Milieu» trifft es gut: Die meisten Rechten, selbst wenn sie sich durch kompromisslose Gesinnungen auszeichnen, wollen gelegentlich aus ihrem Milieu ausbrechen – und wenns nur ist, um einen Linken zu ärgern.

… und klar, was uns alle interessiert, ist, wie sich Trumps soziales Netzwerk truthsocial.com entwickeln wird. Das werde ich natürlich verfolgen. Am 21. Februar soll es losgehen.

Beitragsbild: Die Fackel ist das Symbol von Gettr (Aziz Acharki, Unsplash-Lizenz).

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