Gestern ging es hier um zehn Jahre Netflix – und um die Frage, welche Serien es wert sind, das (teure!) Abo weiterhin zu bezahlen.
Eine der Serien, die den Status der Streaming-Abo-Würdigkeit innehaben, ist Loudermilk. Sie ist nicht mehr ganz taufrisch und sie zählt auch nicht zu den Netflix-Originalen. Aber da es sie derzeit nicht bei einem anderen Streamingdienst zu sehen gibt, erlaube ich mir, sie hier aufzuführen.
Also, Sam Loudermilk führt das Leben, das ich mir für mich vorstelle, wenn der Journalismus endgültig in die Binsen gegangen ist: Er arbeitet als Putzkraft in einer Bank. Und er kümmert sich um seine Mitmenschen und deren Probleme und hilft ihnen bei der Bewältigung der Hindernisse in ihrem Alltag. Und an dieser Stelle sollte ich die Analogie zu meinem eigenen Leben beenden, weil Loudermilk kein Computerjournalist war und die Probleme seiner Mitmenschen nicht in Abstürzen des Browsers, WLAN-Aussetzern und verklemmten Mails besteht.
Weit gefehlt: Loudermilk urteilte als strenger, aber geschmackssicherer Musikkritiker über die grossen Werke der Rockmusik. In der Gegenwart hilft er Mitmenschen bei der Bewältigung ihrer Drogen- und Alkoholsucht. Er selbst ist trockener Alkoholiker, und er kennt den Schmerz, dem er bei seinen Klienten immer wieder begegnet. Was ihn aber nicht davon abhält, unbeeindruckt oder gar abwehrend zu reagieren und mittelmässige (und manchmal auch gute) Witze zu reissen. Und meistens kriegt er rechtzeitig die Kurve und lässt uns Zuschauer wissen, dass wir es mit einem Fall der guten alten harten Schale zu tun haben, in der ein weicher, mitfühlender Kern steckt.
«The Time-Traveling Lumberjacks of the Confederacy»
Loudermilk gehört zum Genre der Tragikomödie, bei dem das Absturzrisiko enorm ist. Der Grat zwischen Kitsch, Melodrama, Tränendrüsen-Drückerei und Verklärung ist schmal. Meines Erachtens funktioniert diese Erzählform überhaupt nur dann, wenn die Witze so gut, scharf und bitter sind, dass sie uns in direkter Proportionalität erahnen lassen, wie gross der Schmerz ist, den sie kaschieren. Ansonsten ist alles nur Schönfärberei und Verharmlosung.
Ich würde nicht sagen, dass das in Loudermilk immer gelingt, doch die Serie ist nahe dran. Das liegt am hervorragenden Buch, bei dem menschliche und allzu menschliche Dinge so eng miteinander verwoben sind, dass wir nie wissen, wo das eine aufhört und das andere anfängt.
Beispiel: Loudermilk muss gezwungenermassen einer jungen (wahnsinnig laut schnarchenden) Frau auf die Beine helfen, die sich bei ihm einquartiert. Bei einem Spaziergang im Park trifft Claire Wilkes (Anja Savcic) auf einen jungen Mann mit Down-Syndrom, der sie dazu bringt, mit ihm Frisbee zu spielen. Hinterher erfahren wir, dass Loudermilk diese Begegnung eingefädelt hat und der junge Mann nicht ganz so kindlich-unschuldig ist, wie es den Anschein hatte. Im Gegenteil: Er verhandelt knallhart um sein Honorar und trägt eine Mitschuld, dass die Sache auffliegt.
«Wir werden nüchtern, nicht berühmt»
Und natürlich liegt die Glaubwürdigkeit der Serie an den tollen Schauspielern. Ron Livingston als Hauptfigur würde einen im richtigen Leben in den Wahnsinn treiben, aber ihm via Bildschirm zuzusehen, ist grossartig. Ebenfalls grossartig ist Will Sasso als heimlich trinkender Mitbewohner Ben Burns und die diversen Teilnehmer an Loudermilks Selbsthilfegruppe, die sich allesamt durch das Talent auszeichnen, bei der kleinsten Gelegenheit vom Thema abzukommen …
Besonders grossartig: Die Folge Hard for Me to Say I’m Sorry, in der Loudermilk zugegeben muss, wie falsch er mit seinem Verriss der Debutplatte einer jungen Künstlerin lag, mit dem er deren Karriere abrupt beendet hat. Er will sich entschuldigen, was gar nicht so einfach ist.
Falls Ihr die Serie nicht einfach zur Unterhaltung schauen wollt, könnt ihr sie euch auch zu Fortbildungszwecken zu Gemüte führen. Nehmt dann den Blog-Beitrag ‘Loudermilk’: Making an Unlikable Character Work als Ausgangspunkt. Er richtet sich an gestandene und angehende Drehbuchautoren und erklärt ihnen den Umgang mit schwierigen Charakteren – so genannten asshole characters –:
Es gibt eine Zeit und einen Ort, um ein Arschloch zu sein. Aber fiktive Arschlöcher müssen die ganze Zeit über Arschlöcher sein, weil das der Sinn ihrer Figur ist. Das kann nervig sein und sich wiederholen, also braucht es eine gewisse Nuance, um das zu erreichen.
Die hohe Kunst besteht darin, «Arschloch-Momente» richtig in eine Geschichte einzubetten:
In einer schwerfälligen, irritierenden Szene bemerkt Sam zwei Männer mit Bärten und Flanellhemden, die sich unterhalten. Er hält an, um sich über sie lustig zu machen und sie zu beschimpfen, weil sie … Bärte haben und Flanellhemden tragen – weil sie Hipster im Jahr 2017 sind, nehme ich an. Diese Szene tut alles, was ein Autor vermeiden sollte: Sam hält eine Rede, er gibt das Arschloch und er ist nicht besonders witzig oder scharfsinnig. Er geht auf Leute ein, die sich bloss um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.
Was die Serie angeht, würde ich dieser Charakterisierung widersprechen: Loudermilks inneres Arschloch – und nein, das soll keine anatomisch korrekte Definition sein – sitzt dicht unter der Haut und kommt schnell zum Vorschein. Aber es ist eben nicht sein einziger Charakterzug. Wenn wir schon ein stehendes Bild für ihn bemühen müssten, dann wäre es der weiche Kern, der in einer harten Schale sitzt.
Wer tiefer in die Serien-Kategorie eintauchen will, in denen Männer vorkommen, die vielleicht Arschlöcher, aber sicherlich seltsam, befremdlich, aber auf schwer verständliche Weise sympathisch sind, dem seien abschliessend die niederländische Serie Toon und die österreichische Serie Dave empfohlen.
Beitragsbild: Vom Leben gezeichnet – der Mann mit dem melancholischen Blick, den eindrücklichen Augenbrauen und den gelegentlichen Wutausbrüchen. (IMDB).