Der Video-Editor für die Tiktok-Generation

Capcut ist eine Video­schnitt-App, die von sich be­haup­tet, alles zu können. Doch ihre Stärke sind Videos für Tiktok und Youtube Shorts. Dafür bietet sie einen Tele­promp­ter und al­ler­hand Ver­schö­ne­rungs­mög­lich­keiten für die Per­sonen im Bild.

Capcut ist eine Video-App, die mir neulich über eine Story in Apples App-Store nahe gebracht worden ist. Und da ich diesen Storys nicht über den Weg traue, teste ich sie hier nun selbst.

Es gibt Capcut für Android, fürs iPhone und iPad und für Windows und Mac. Das Programm ist jetzt, wo ich diesen Beitrag schreibe, im Apple-Store die Nummer zwei in der Kategorie Foto und Video. Die Frage ist natürlich: Ist diese gute Chartposition verdient?

Auf den ersten Blick eine normale Videoschnitt-App – doch das Menü unten hat es in sich.

Ich bespreche die App anhand der iPhone-Version. Mein erster Eindruck wird getrübt, weil die App als Erstes einen Fragebogen anzeigt: In welcher Branche bist du tätig? Für welche Projekte willst du die App nutzen? Das könnte (und soll vermutlich auch) den Eindruck erwecken, als ob die App für die entsprechenden Aufgabenbereiche besonders angepasst werden würde. Aber natürlich geht es nur ums Marketing, weil der Entwickler gern wissen möchte, was für Anwender er hat. Das halte ich grundsätzlich für legitim, aber ich es sollte gefälligst auch so deklariert werden. Aber vor allem sollte es erst abgefragt werden, wenn ich auch gewillt bin, die App öfter zu nutzen und nicht, bevor ich überhaupt entschieden habe, ob sie brauchbar ist.

Ein riesiger Funktionsumfang – und ein Riesenpuff im Menü

Die App sieht dann erst einmal genauso aus wie ihresgleichen: Es gibt oben ein grosses Vorschaufenster, darunter eine Zeitleiste mit den Clips und am unteren Rand Knöpfe für die einzelnen Bearbeitungsbereiche. Allerdings ist das Angebot an Menüpunkten² und Unterpunkten erschlagend: Der erste Menüpunkt, Bearbeiten, umfasst mehr als zwanzig Unter-Module³.

An dieser Stelle wird klar, dass Capcut einen beeindruckenden Funktionsumfang hat: Es gibt einige Profi-Funktionen wie das Chroma-Keying, eine riesige Anzahl an vorgefertigten Effekten, die nicht manuell gebaut werden müssen, sondern einem Clip mit einem Fingertippen hinzugefügt werden können.

Die Software erkennt offensichtlich Menschen, Gesichter oder auch Hände, die dann separat mit Effekten belegt oder für die Bearbeitung herangezogen werden können. Mit der Kameraverfolgung ist es möglich, anhand der Bewegung einer Person eine virtuelle Kamerafahrt zu simulieren und über die Retuschieren-Funktion können Gesichter nach allen Regeln der Kunst aufgehübscht, mit virtuellem Make-up versehen oder gar in der Hautfarbe verändert werden.

Die Benutzerfreundlichkeit lässt zu wünschen übrig

Aus Sicht der Benutzerfreundlichkeit habe ich indes einiges zu bemängeln:

  • Die uneinheitliche Menüstruktur. In dem riesigen Funktionsumfang den passenden Befehl zu finden, ist schwierig. Die Sortierung der Befehle wirkt zufällig und verzettelt, es gibt Befehle mit dem gleichen Namen an verschiedenen Stellen im Menü (den Befehl Anpassen habe ich an drei unterschiedlichen Stellen im Menü gefunden).
  • Die inkonsistente Bezeichnung. Stil, Effekte und Filter werden ohne klare Trennung benutzt. Das könnte auch an der deutschen Übersetzung liegen, aber mein Eindruck ist, dass sich die Macher der App um eine klare Nomenklatur foutiert haben.
  • Die komische Navigation. Es ist nicht einheitlich geregelt, wie man aus einem Menü wieder herauskommt. Manchmal, indem man ausserhalb des Menüs tippt, manchmal, indem man ohne etwas auszuwählen den Häkchen-Knopf betätigt.

Der grösste Kritikpunkt besteht aber darin, dass die App für meinen Geschmack zu sehr auf Effekt gebügelt ist. Es gibt eine riesige Anzahl an vorgefertigten Möglichkeiten, sein Material aufzumotzen. Das mag für Produzenten von Musikvideos oder für Clips passen, die bei reizüberfluteten Social-Media-Nutzerinnen und Nutzern den letzten Rest an Aufmerksamkeit in Beschlag nehmen sollen. Mein Bedürfnis trifft das nicht, und in dieser Flut an Features und gehen die Funktionen, die Kernfunktionen regelrecht unter.

Für Quick-und-Dirty-Videos

Die Startseite von Capcut – mit Kamera und Teleprompter.

Diese App richtet sich nicht an Leute, die handwerklich sauber arbeiten wollen – und auch nicht an routinierte Videobearbeiter. Stattdessen ist das Ziel, wenig erfahrenen Nutzerinnen und Nutzern die Möglichkeit zu geben, nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum ihr Material durch die Mangel zu drehen, bis kaum mehr etwas davon zu erkennen ist.

Nebst der Bearbeitung der einzelnen Projekte hält die App weitere Funktionen bereit, die durchaus spannend sind:

  • Eine Kamera: Sie zeichnet Clips in einer bestimmten Länge auf (z.B. 15, 60 oder 180 Sekunden), erlaubt die Steuerung der Aufnahmegeschwindigkeit und kann Effekte und einen Timer zuschalten. Die ist offensichtlich auf die Bedürfnisse von Tiktok- und Youtube-Shorts-Videoproduzenten ausgelegt.
  • Prompter: Er zeigt den Text im Live-Bild der Kamera an – sinnvollerweise nutzt man den natürlich mit der Selfie-Kamera. Im Menü stellen wir ein, wie schnell der Text durchläuft und wie gross er angezeigt wird.
  • Untertitel-Editor: Klar, auch das ist wichtig für Clips für die sozialen Medien, damit die auch stumm abgespielt werden können.
  • Autocut fabriziert Videos anhand von Vorlagen im Vollautomatik-Modus.
Die Teleprompter-Funktion.

Die App kann kostenlos benutzt werden, doch für viele Funktionen ist die Pro-Variante nötig. Das Abo kostet 8.50 Franken bzw. zehn Franken pro Monat für die Pro-Variante (was genau der Unterschied ist, hat sich mir nicht erschlossen), respektive 70 Franken pro Jahr fürs Pro-Abo.

Der Konkurrenz nicht gewachsen

Bleibt die Frage, was von Capcut im Vergleich zu anderen gängigen Video-Apps zu halten ist – also vor allem zu den Kandidaten, die ich bei früheren Gelegenheiten besprochen habe: Videoleap, Adobe Rush, Quik und Splice von Gopro, Clips, Inshot, Magisto oder Luma.

Die einzelnen Apps unterscheiden sich in den Details durchaus:  Die einen haben einen Automatikmodus, der einen mehr oder minder brauchbaren Rohschnitt abliefert (Quik, Magisto), andere sind für die Kurz-Clip-Produktion für die sozialen Medien ausgelegt (Rush) und dritte (Videoleap) bieten einen grossen Funktionsumfang und Profi-Features, die man sonst nur bei Desktop-Programmen wie Premiere, Final Cut oder DaVinci Resolve vorfindet.

Eine der Stärken von Capcut: Die Steuerung der Geschwindigkeit per Kurve.

Capcut will alles davon sein, nämlich die vielzitierte eierlegende Wollmilchsau. Für mich geht das nicht auf; ich finde die App zu chaotisch. Videoleap gefällt mir nach wie vor am besten – und für viele Belange reicht mir auch iMovie.

In der Tat; ich schneide Kurz-Clips für Facebook oder den Familienchat meist Apples App, die im nächsten Jahr ihren 25. Geburtstag feiert¹. Denn die Clips aneinanderzureihen, die vorn und hinten etwas zu trimmen und mit einer Musik zu unterlegen, ist mit diesem Software-Klassiker genauso möglich wie mit den anderen Apps. Dass iTunes die Hintergrund-Musik automatisch der Länge des Clips anpasst, finde ich übrigens grossartig!

Für Capcut sehe ich eine Chance, wenn es anspruchsvoller wird – aber nicht so anspruchsvoll, dass ich zu Final Cut wechseln würde. Die Geschwindigkeits-Anpassungen mittels Kurve eignet sich hervorragend für Slow-Motion-Aufnahmen. Und den Teleprompter muss ich auch mal ausprobieren.

Fussnoten

1) Natürlich nicht in der iPhone-Variante, sondern als Mac-Software.

2) Das sind die Befehle auf der ersten Ebene der Menüleiste:

Bearbeiten: Mit ihm werden die einzelnen Clips in Form gebracht. Es erscheinen Anfasser, mit denen sie vorn und hinten gekürzt werden. Aber nicht nur: Bei einem ausgewählten Befehl erscheinen am unteren Rand die Knöpfe des Untermenüs, das fast zwanzig weitere Menüpunkte enthält – die sind in der nächsten Fussnote beschrieben.

Audio: Hier legen wir die Tonspur fest, wobei auch Tiktok-Soundtracks zur Verfügung stehen, für die wir uns aber bei Tiktok anmelden müssen. Es gibt auch vorgefertigte Soundeffekte, die Möglichkeit, die Tonspur aus einem anderen Video hinzuzufügen und eine Aufnahmefunktion fürs Voiceover.

Text: Hier werden Einblendungen und automatische Untertitel hinzugefügt. Interessant ist das Menü automatische Liedtexte, das für Karaoke-Darbietungen o.ä. gedacht ist. Und via Zeichnen können wir auch ins Video kritzeln oder malen.

Überlagerung: Mit diesem Modul werden zwei Clips übereinandergelegt und überlagert, wobei diverse Mischmodi zur Auswahl stehen.

Welches Seitenverhältnis der fertige Clip haben soll, wird unter Verhältnis festgelegt.

Effekte: Sie sind in drei Bereiche eingeteilt: Videoeffekte, Körpereffekte und Fotoeffekte. In der ersten Kategorie gibt es ein riesiges Angebot an Modulen, die das Bild zum Flackern, Wackeln, Blitzen und Glitzern bringen, die Fehler, Glitches, Explosionen und ähnliche Dinge simulieren. Bei Körpereffekte lassen sich die im Bild erkannten Menschen einer Veränderung unterziehen und sie multiplizieren, farblich verändern, zum Flackern oder Leuchten bringen oder in eine andere, surreale Umgebung versetzen. Das Angebot unter Fotoeffekte ist in diverse Kategorien eingeteilt, u.a. Partikel, Bewegung, Porträt, Szenenwechsel, Videoeffekte und – natürlich! – KI-Malerei. Die finden sich auch unter Stil im Bearbeiten-Menü.

Nebst den Effekten gibt es auch die Filter. Hier geht es vor allem um knalligere Farben und einen bestimmten optischen Look – also das, was man als Farbkorrektur oder im Filmjargon auch Grading nennt.

Anpassen: Und ja, die ganz klassische, manuelle Bildbearbeitung ist mit Capcut auch möglich; auch wenn der entsprechende Menüpunkt fast am Ende der Liste erscheint. Hier korrigieren wir Helligkeit, Kontrast, Sättigung, Belichtung, Schärfung oder die Gradationskurve oder fügen eine Vignette hinzu. Es gibt auch ein Untermenü fürs Entfernen von Flimmern oder Bildrauschen.

Sticker enthalten das, was man erwartet. Nämlich Smileys, Emojis oder andere, teils animierte Symbole, mit denen wir auf einen Bereich des Videos hinweisen oder die Zuschauer zum Abonnieren auffordern oder um ein Like anbetteln.

Falls durch die Formatänderungen schwarze Ränder entstehen, wählen wir unter Leinwand eine Farbe, ein Bild oder ein Muster.

3) Das sind die Menübefehle im Untermenü zum Modul Bearbeiten:

Geschwindigkeit: Mit diesen Befehlen lässt sich der Clip beschleunigen oder abbremsen. Das ist nicht nur linear über den ganzen Clip möglich (Normal), sondern mittels Kurve auch mit Beschleunigen oder Abbremsen. Tippt man man die gewählte Kurve ein zweites Mal an, erscheint ein Editor, in dem wir über Anfasser die Berge und Täler zwischen Beschleunigung auf Faktor zehn und einem Zehntel beliebig anpassen können.

Animation hält diverse Effekte bereit, die am Anfang und/oder Ende des Clips hinzugefügt werden: Wir können ihn drehend, hüpfend oder auf vielerlei andere Weise anfangen und beenden.

Stil gibt diverse Optionen zur Anpassung der Optik oder zur Animation von Fotos. Diese Stile werden via Server hinzugefügt, sodass die Clips dafür hoch- und wieder runtergeladen werden müssen. Die Stile scheinen sich mit denen zu decken, die unter Effekte dem ganzen Video zugeordnet werden können.

Die oben erwähnten Filter sind auch hier noch einmal zu finden – hier wohl nicht zur Anwendung auf das ganze Video, sondern auf einzelne Clips. Dieses Menü hier ist unterteilt in Filter, Anpassen und Videoqualität. Anpassen entspricht dem oben erwähnten Modul, bei Videoqualität finden sich Methoden zur Reduktion von Flimmern und Rauschen.

Anpassen gibt es aber auch in diesem Menü noch einmal als separate Rubrik. Damit ist dieser Befehl an drei verschiedenen Orten und unterschiedlichen Hierarchiestufen vorzufinden: Das ist maximal verwirrend!

Kameraverfolgung nimmt einen Ausschnitt und simuliert eine Kamerafahrt innerhalb des ganzen Bildes. Mit Kameraverfolgung orientiert sich diese Funktion an einem Gesicht, Körper oder einer Hand. KI-Bewegung vollführt mittels automatischer Algorithmen irgendwelchen Voodoo auf den Filmen – damit eher statische Szenen mehr Bewegung erhalten.

Innerhalb des Bearbeiten-Menüs gibt es nochmals einen Unterpunkt Bearbeiten: Er enthält Befehle, um den Clip zu spiegeln, drehen oder zuzuschneiden.

Autoformatänderung: Damit bringt man den Clip möglichst intelligent vom ursprünglichen Seitenverhältnis auf ein anderes. Diese Option ist dazu da, hochkant gefilmte Handy-Videos für 16:9 anzupassen – oder umgekehrt. Es stehen u.a. auch ein quadratisches Format (1:1) für Instagram, 4:3 für das altmodische TV-Format oder 2:1 für cineastische Werke zur Verfügung

Verwandeln: Hier wird der Clip horizontal oder vertikal verschoben oder gedreht.

Ausschneiden: Mit dieser Option können wir den Hintergrund entfern, einen Bereich manuell löschen oder mit Chroma-Keys arbeiten – d.h. den Hintergrund ersetzen, wenn das Material vor einem Greenscreen gedreht worden ist.

Retuschieren: Damit können wir Gesichter oder Körper aufhübschen. Es gibt tatsächlich auf Funktionen, um die Haut glatter zu machen oder in ihrer Farbe anzupassen (!). Wir können spezifisch auch Wangenknochen, Kinnform, Augen, Mund und Augenbrauen in ihrer Form verändern oder ein virtuelles Makeup anwenden. Das erinnert an die Facetune-App (Mach mich hübsch!), einfach für Videos.

Maske: Der Clip kann geteilt oder in diverse Formen wie Kreis, Rechteck, Herz oder Stern eingefasst werden.

Audio extrahieren löst die Tonspur zur separaten Bearbeitung. Wenn das rückgängig gemacht werden soll, verwenden wir Audio wiederherstellen.

Es gibt noch einige weitere Menüpunkte: Bewegungsunschärfe rechnet eine Verwischung bei bewegten Objekten hinzu. Stabilisieren soll Verwackelungen im Videomaterial beheben. Deckkraft macht Clips transparent, was für überlagerte Clips gedacht ist. Umkehren dreht die Abspielrichtung des Videos um und Einfrieren hält den Clip für einen Moment an, indem ein Standbild der aktuellen Szene eingefügt wird.

Die Spracheffekte wirken sich auf die Tonspur aus, wobei es nenbst eher banalen Effekten wie Stimmen tiefer zu machen oder in ein Alien zu verwandeln auch eine Rubrik namens Stimmausgabe als Lied gibt – das habe ich nicht ausprobiert, weil es sich um einen Pro-Effekt handelt, aber es ist anzunehmen, dass es sich um eine Art Art Vocoder handelt. Es gibt auch ein Modul zum Entrauschen der Tonspur und via Beats werden anhand der Musikspur Bearbeitungspunkte hinzugefügt.

Plus noch ein paar Befehle, die der Vollständigkeit halber zu erwähnen wären: Mit Löschen entfernen wir den markierten Clip aus der Zeitleiste, Kopie dupliziert ihn uns über Ersetzen tauscht man ihn aus. Bei Teilen zerlegen wir ihn Clip in einzelne, separat bearbeitbare Segmente. Und unter Lautstärke legen wir fest, wie laut die Originaltonspur sein soll. Auch Ein- und Ausblenden ist hier möglich.

Beitragsbild: Mit dieser Video-App wirds sicher was (Laura Chouette, Unsplash-Lizenz).

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