«The Hole» hat dramaturgisch ein paar Löcher

Im Buch von Brandon Q. Morris, der bürgerlich Matthias Matting heisst und Physiker ist, droht dem Sonnen­system ein abrup­tes Ende. Die Mensch­heit nimmt das un­fass­bar gelassen – was über Gebühr nerven­schonend ist.

Ich habe versucht herauszufinden, wie sich die Coronapandemie auf den Büchermarkt ausgewirkt hat. Im Beitrag The Pandemic Is Changing Book-Buying Patterns von «Publishers weekly» gibt es einige Informationen dazu: Natürlich habe die Leute Bücher zu Seuchen gekauft (schliesslich stand sogar auf Facebook, was man aus Die Liebe in den Zeiten der Cholera) alles lernen kann. Die Zahlen widerspiegeln, dass die Leute ihre Freizeit radikal umgestaltet haben (ein Plus von 42 Prozent in der Kategorie «Spiele und Aktivitäten») und der Anstieg von zehn Prozent bei der Belletristik deutet auf ein gesteigertes Bedürfnis nach Realitätsflucht hin.

Das ist interessant, aber nicht so tiefgründig, wie ich es gern hätte. Mich würde interessieren, welche Verschiebungen es bei den Genres gab. Haben die Leute mehr Wohlfühl-Bücher und utopische Werke gelesen, die sie von einer besseren Zukunft träumen lassen? Sind sie in Fantasy-Welten abgetaucht, die nichts mit dieser Realität hier zu tun haben? Oder kam «die gute alte Zeit» in Form von historischen Schinken zum Zug? Das würde mich interessieren. Falls jemand eine Studie dazu hat; bitte lasst die anderen Leserinnen und mich via einen Kommentar daran teilhaben.

Ohne genauere unabhängige Informationen bin ich auf Selbstbetrachtung angewiesen: Ich stelle fest, dass ich in den letzten Jahren um gewisse Themen einen Bogen gemacht habe. Allzu dystopische Welten haben mich schon während der Pandemie nicht mehr so gereizt wie früher, und während des Ukraine-Kriegs würde ich «Slaughterhouse 5» von Kurt Vonnegut allein wegen des Titels im Bücherstapel nach unten sortieren.

Das ganz grosse Geschütz

Ich bin mir fast sicher, dass diese Darstellung eines schwarzen Lochs wissenschaftlich nicht völlig akkurat ist

Trotzdem habe ich mich auf ein Buch eingelassen, das eine reichlich düstere Ausgangslage aufweist und obendrein meine Prämisse verletzt, dass man als Autor eine packende Geschichte abliefern kann, ohne dass man immer gleich die ganz groben Geschütze auffahren müsste. Will heissen: Es muss nicht immer gleich das Überleben der gesamten Menschheit auf dem Spiel stehen, damit Spannung entsteht.

Doch in dem Fall steht nicht nur das Überleben der Menschheit auf dem Spiel. In The Hole (Sonnenstystem, Band 1) geht es um nichts weniger als den Untergang des gesamten Sonnensystems. Ich habe mich trotzdem aufs Buch eingelassen, weil es sich als «Hard Science Fiction» verkauft. Bei der «wird die Science in der Fiction grossgeschrieben», wie es hier erläutert wird: Das bedeutet, dass die naturwissenschaftlichen Grundsätze sich nicht der Dramaturgie unterordnen dürfen und die Fakten im Buch stimmen müssen.

Eine beträchtliche Portion Physiker-Romantik

Das ist ein hehres Ziel, aber ob es wirklich eingehalten wurde, lässt sich schwer beurteilen. Die Geschichte beginnt am 1. Januar 2072, also kurz vor meinem 101. Geburtstag, und welche Fortschritte die Menschheit bis dahin gemacht haben wird, lässt sich schwer abschätzen – da ist auch bei «harter» Scifi viel Spekulation mit dabei. Das Ende der Geschichte hat auch etwas für sich, aber ohne zu spoilern, ist in das eine beträchtliche Portion Physiker-Romantik eingeflossen.

Was man dem Buch attestieren kann, ist sein nüchterner Ton: Im Observatorium auf dem Pico del Teide auf Teneriffa entdeckt die junge Astrophysikerin Maribel Pedreira in den Daten, die sie für ihren leicht tyrannischen deutschen Chef auswerten sollte, eine Anomalie, die sie mit keinerlei mathematischen Tricks wegbekommt – natürlich, weil da tatsächlich etwas ist. Nämlich ein Micro Black Hole, das direkt auf die Sonne zusteuert. Auch wenn dieses – bislang theoretisch vermutete, aber bislang nicht bewiesene – Objekt in der Geschichte nur sechs Meter Durchmesser hat, kann es die Sonne auseinanderreissen, ihre Energie absorbieren und uns und unserer solaren Nachbarschaft ein schnelles Ende bereiten.

Zum Glück hat die bemannte Raumfahrt so grosse Fortschritte gemacht, dass eine Bergungscrew in idealer Position für eine Rettungsmission steht. Diese Mannschaft hat einen Asteroiden eingefangen, um seine Rohstoffe in den Handel zu bringen. Sie fliegt zum schwarzen Loch, nimmt in rasender Geschwindigkeit eine elliptische Umlaufbahn ein und versucht, dem schwarzen Loch «Informationen» zuzuführen – das Ende ist, unter uns gesagt, etwas abstrakt.

Watson trifft Siri

Die besagte Nüchternheit passt an Bord des Raumschiffs gut: Die Crew gabelt eine entwischte künstliche Intelligenz namens Watson auf, die sich in den Bordsystemen breit macht und auf die Idee kommt, aus dem uralten iPhone des Bordkochs – der gerade dabei ist, das Referenzwerk fürs Kochen in der Schwerelosigkeit zu schreiben – eine unfassbar primitive künstliche Intelligenz namens Siri zu extrahieren und sie unter seine Fittiche zu nehmen. Unter dem Mäzenatentum entwickelt sich Siri ganz ordentlich, und die Dialoge zwischen Menschen und Maschinen sind teils amüsant.

Am falschen Ort ist die Nüchternheit allerdings auf dem Planeten Erde: Die Menschheit weiss, dass sie noch sechs Monate hat und die gravierendsten Auswirkungen, mit denen sie zu kämpfen hat, bestehen darin, dass in manchen Unternehmen einige Mitarbeiter fehlen, weil die noch kurz eine Reise machen wollten? Man muss nicht Roland Emmerich sein, um das für Unfug zu halten. Wenn man den Weltuntergang verspricht, dann muss man Drama und Abschiedsschmerz liefern; anders geht es einfach nicht.

Bei diesem Punkt versagt «The Hole» völlig. Und auch bei der Stimmung und der Charakterentwicklung gebe ich ihm eine ungenügende Note.

Hard Science, aber Soft Fiction

Nicht geglaubt habe ich dem Autor auch die Behauptung, dass die Entdeckung einer extraterrestrischen Spezies die Menschheit zwar zuerst schon interessiert, dann aber relativ schnell wieder kaltgelassen hat. Klar, diese Spezies ist nicht sonderlich spannend, weil sie in den Tiefen eines Sees in einem Saturnmond taucht und für damit keinen direkten praktischen Nutzen hat. Aber da es sich um intelligentes Leben handelt, kommt ein Autor nicht umhin anzuerkennen, dass das für die Menschheit eine Zeitenwende wäre. (Um dieses Wort einmal in einem etwas anderen Kontext zu bemühen.) Schon Mikroben auf dem Mars würden unseren Glaubenssatz zum Einsturz bringen, auf dem einzigen bewohnten Planeten im Sonnensystem zu leben.

Ich bin sicher, dass es geholfen hätte, kleinere Brötchen zu backen: Das Schwarze Loch wäre auch ohne die direkte Gefahr fürs Sonnensystem ein spannendes Objekt gewesen und wenn nicht die Rettungsmission im Zentrum gestanden hätte, sondern sich eine Art «Road»-«Movie» im Weltall ergeben hätte, dann wären auch die erwähnten Mankos nicht so ins Gewicht gefallen.

Fazit: Man kann das Buch lesen, man muss aber nicht. Noch ein Wort zum Autor: Er nennt sich Brandon Q. Morris, heisst in Tat und Wahrheit aber Matthias Matting. Nun habe ich nichts gegen Pseudonyme, aber warum ein englisches? Weil sich der Autor mehr Erfolg auf dem internationalen Markt ausrechnet? Der unnötige Anglizismus im Titel hat mich jedenfalls dazu gebracht, das Buch in Englisch zu kaufen und zu hören, da ich geglaubt hatte, das sei die Originalsprache – weswegen ich mir im Nachhinein vergackeiert vorgekommen bin.

Beitragsbild: Im Buch hat sie noch sechs Monate (Pixabay, Pexels-Lizenz).

Kommentar verfassen