Wie wäre es, so plötzlich ganz ohne Internet?

Im Thriller «Systemfehler» von Wolf Harlander bringen Cyberterroristen das Internet zu Fall. Das Ende unserer Online-Gesellschaft ist eine unterhaltsame Angelegenheit – auch wenn das Buch ebenfalls einen Systemfehler aufweist.

Juhuu, ich bin Literatur-Influencer!

Zumindest vermute ich das, nachdem ich neulich unaufgefordert ein Rezensionsexemplar eines Buchs erhalten habe. Es handelt sich um das brandneue Werk von Wolf Harlander. Es läuft unter dem Titel Systemfehler, und es passt tatsächlich hervorragend in mein literarisches Beuteschema. Das spricht für die Pressearbeit des Rowohlt-Verlags. Und ich weiss das zu würdigen. Ich habe das Buch nämlich gelesen und schreibe nun auch gerne eine Besprechung für die Nerdliteratur-Rubrik hier im Blog.

Also, der Klappentext verspricht nichts weniger als die kommunikative Apokalypse:

Mitten in der Urlaubszeit bricht europaweit das Internet zusammen. Flugzeuge können nicht mehr landen, Ärzte nicht mehr operieren, der Verkehr versinkt im Chaos. Bald sind alle Kommunikationswege gekappt. Ganz Europa befindet sich im Ausnahmezustand, die Menschen geraten in Panik, die Versorgung bricht zusammen.

Ein Thriller im Spannungsfeld zwischen Politik und Technologie

Das ist ein spannendes Szenario, das man in verschiedenen Genres ausschlachten könnte: nicht nur als Thriller oder Horrorstory, sondern auch als philosophieschwangere Allegorie auf unsere Abhängigkeit von der Technik. Und sogar eine Zurück-zur-Natur-Romanze wäre vorstellbar. Aber Harlander hat sich für einen politischen Kriminalroman entschieden, bei dem ein Neuling beim Bundesnachrichtendienst noch in seiner Probezeit die Gelegenheit erhält, einen Terroranschlag aufzuhalten, der sogar den Sturm aufs Kapitol der Amateur-Putschisten aus den Reihen der Trump-Fans vom 6. Januar in den Schatten stellt.

Der Verlag betont die Realitätsnähe des Werks: «Harlander entwirft ein Szenario, das Experten für sehr wahrscheinlich halten: einen totalen Internetausfall, der unsere Zivilisation in die Knie zwingen würde.»

Ein echtes Buch, vom Verlag zugeschickt – so toll ist es, Nerdliteratur-Influencer zu sein!

Halten Experten das tatsächlich für sehr wahrscheinlich? Das Internet hat ohne Zweifel Schwachstellen. Das haben wir gerade neulich wieder einmal erfahren, als mit Fastly ein grosses Content Delivery Network (CDN) ausgefallen ist.

Allerdings ist eben nicht das ganze Internet ausgefallen, sondern nur ein Teil davon, nämlich all die grossen Websites, die auf einen einzigen Infrastruktur-Dienstleister gesetzt haben. Das Internet für sich ist auf Ausfallsicherheit getrimmt und lässt sich von so einer Panne nicht beeindrucken. Aber natürlich kann man sich fragen, was passieren würde, wenn es jemandem gelänge, grosse Teile der Infrastruktur oder die Root-Nameserver unter seine Kontrolle zu bringen.

Das Internet wirds schon aushalten

Und ja, es gibt sie in der Tat, die Experten, die das Internet für anfällig halten – aber die haben oft zufälligerweise ein eigenes Sicherheitsunternehmen, mit dem sie Dienstleistungen zum Schutz vor solchen Risiken anbieten. Jedenfalls hat Vint Cerf, einer der Väter des Internets, als Replik auf einen der Untergangspropheten gesagt, «the Internet’s going to be just fine»; dem Internet wird schon aushalten.

Aber man sollte das Buch nicht an dieser Aussage messen. Denn wie jeder Tech-Thriller hat es das Problem, dass allzu viele Details zwar die Authentizität erhöhen, aber auch den Lesespass schmälern. Das gilt selbst für mich als Nerd, weil ich einerseits auch kein Netzwerkspezialist bin und andererseits kein Fachbuch, sondern eine spannende Geschichte lesen will.

Das ist immer eine Gratwanderung, doch Wolf Harlander hat sie gut hinbekommen: Die Beschreibungen der technischen Hintergründe müssten selbst für ein nicht allzu versiertes Publikum verständlich und ausreichend unaufdringlich sein.

Der Autor macht keine groben sachlichen Schnitzer, biegt sich die Wirklichkeit aber stark zurecht

Es gibt keine unverzeihlichen Fehler, die den Lesespass mindern würden, zumindest, dann, wenn man wie oben empfohlen keine zu hohen Ansprüche an die Authentizität stellt. Wie zuvor erwähnt, glaube ich nicht, dass sich das Internet so leicht ausser Gefecht setzen lässt. Immerhin ist das Szenario realistisch genug, dass ich mich nicht aufregen musste.

Zumindest gilt das für die Komplett-Lahmlegung des Datenverkehrs im Verlauf der Geschichte. Am Anfang kommt es zu spezifischen Ausfällen bei Verkehrsleitsystemen und in Spitälern, die im Buch nicht ausreichend erklärt sind. Sie sind als dramatische Vorboten gedacht und geben dem Autor die Gelegenheit für spannungsgeladene Episoden, die für die eigentliche Handlung aber nicht relevant sind.

Letztlich hätte es sicherlich mehr gebracht, auf die zu verzichten. Hätte ich das Buch geschrieben, wäre ich mit dem Totalcrash des Internets eingestiegen. Das passt zwar nicht zur typischen Erzählweise eines apokalyptischen Thrillers, bei der sich die Bedrohungslage nach und nach aufbaut. Aber es wäre glaubwürdiger gewesen und hätte genauso die Möglichkeit geboten, mit der Erzählung dramatischer Einzelschicksale die Kollateralschäden zu beleuchten.

Die stereotypen Figuren

Zweiter Kritikpunkt: Beim Personal gibt es arge Stereotypen. Der mit seiner Biografie verkrachte Ermittler ist eine solche. Ebenso der geniale Programmierer und Hacker, der die weltbesten Games geschaffen hat, aber nicht gerade eine hohe Sozialkompetenz aufweist.

Aber gut, auch das kann man dem Buch nachsehen. In einem Thriller geht es nun einmal mehr um die Action als um die Charaktertiefe der Figuren. Und für Action ist gesorgt: Es gibt nicht nur einen Sturm auf den Bundestag, sondern auch eine Invasion des Kanzleramts durch Figuren, wie sie während der Pandemie in der Realität zu bewundern waren. Harlander nennt die QAnon-Verschwörungsspinner beim Namen, hält aber auch andere Gruppen bereit, in denen man unzweifelhaft die Corona-Querdenker wiedererkennt.

Diese Anleihen verankern «Systemfehler» in der Aktualität. Doch weil in dieser Geschichte keine Pandemie existiert, hat man gleichzeitig genügend Distanz, damit die Unterhaltung gewährleistet ist. Auch so mag es Leute geben, für die Harlander die schwierigen gesellschaftlichen Entwicklungen etwas gar salopp als Zutat für turbulente Belletristik ohne allzu viel Tiefgang verwendet.

Ein unterhaltsames Buch mit einigen Schwächen

Fazit: Ich habe das Buch gern gelesen. Falls ich es richtig verstanden habe, ist «Systemfehler» Wolf Harlanders zweites Buch und ich denke, er hat das Potenzial zuzulegen, denn viele Autoren im Thriller-Genre mit zunehmender Routine auch souveränere Fabulanten. Jedenfalls habe ich den Autor im Verdacht, dass die Hauptfigur des Buchs, BND-Ermittler Nelson Carius, auch in künftigen Werken auftauchen wird. Jedenfalls bleiben die biografischen Beweggründe, deretwegen diese Figur beim Bundesnachrichtendienst landet, in dieser Geschichte unaufgeklärt.

Trotz des guten Unterhaltungswerts hat das Buch klare Schwächen. Die Motivation des Bösewichts für seinen Angriff auf die Demokratie (siehe inhaltliche Zusammenfassung unten) bleibt so vage, dass 95 Prozent aller wütenden Facebook-Nutzer für einen ähnlichen Coup infrage kommen. Ausserdem ist sie einfach nicht plausibel: In einem Satz erwähnt der Bösewicht seine altruistischen Motive, die zu wenig gewürdigt worden sind – und deswegen schlägt das Gutmenschentum in Hass auf alle um? Ich will nicht ausschliessen, dass das passieren könnte, aber fünf Jahre in einem Gefängnis sind keine ausreichende Begründung.

Was ich auch bemängeln würde, ist, dass die Auswirkungen eines andauernden Internetausfalls zwar punktuell mit vielen Details beleuchtet werden, aber trotzdem relativ diffus bleiben.

Wie wäre es denn nun wirklich?

Ich würde gerne lesen, wie sich ein Autor das auf der Makro- und Mikroebene vorstellt: Dass erst einmal Verbrechen und Anarchie um sich greift, liegt auf der Hand. Aber wie würden wir uns organisieren? Mit welchen Mitteln den Alltag wieder in Gang bringen? Wie schnell kämen die analogen Behelfslösungen zurück? Oder würden wir uns mit Mesh-Netzwerken behelfen? (Was meine bevorzugte Methode wäre.)

Und vor allem: Wie würde es sich für die Menschheit und für uns kommunikationsversessene Individuen anfühlen, in die Offline-Steinzeit zurückkatapultiert zu werden? Davon hätte ich gerne mehr gelesen.

Kurz zum Inhalt, mit einigen Spoilern: Die Sache fängt wie erwähnt damit an, dass in verschiedenen Ländern Probleme beim Flug-, Bahn- und Autoverkehr auftreten, weil die vernetzten Steuerungssysteme nicht mehr funktionieren, wie sie sollten. Auch in Spitälern kommt es zu dramatischen Szenen. Erst funktionieren nur Lifte, Türen und Beleuchtung nicht, aber dann verweigern in den Intensivstationen die Geräte den Dienst verweigern und die Patientendaten sich nicht mehr abrufbar. Obendrein verweigert dann ein System für die Telemedizin während einer Operation plötzlich den Dienst verweigert – wobei man sich natürlich fragen kann, ob nicht jeder verantwortungsbewusste Mediziner angesichts der Häufung von Problemen auf den Einsatz digitaler Mittel verzichtet hätte.

So leicht kommt man unter falschen Verdacht

Ins Visier kommt Daniel Faber, der als Marketing-Mensch bei einem Münchner Spielentwickler arbeitet – und zwar deshalb, weil sein Sohn sich unerlaubterweise in ein nicht veröffentlichtes Spiel gehackt, das vermeintlich zum Absturz gebracht hat und auf der Suche nach einer Reparaturmethode im Darknet bei einer höchstseltenen Schadsoftware gelandet ist, was wiederum den bereits erwähnten BND-Ermittler Nelson Carius und dessen Partnerin Diana Winkels dazu brachte, ein Interesse an ihm zu entwickeln. (Und ja, in der Zusammenfassung klingt das nach einer wahnsinnig an den Haaren herbeigezerrten Affäre. Doch im Buch ist es glaubwürdig genug geschildert.)

Daniel Faber hat somit die Motivation, seine Unschuld zu beweisen, indem er den Ursachen der überall auftretenden Störungen auf die Schliche kommt – und natürlich hat er am Ende seinen Anteil am Happy End, schliesslich ist er nicht nur Marketing-Mensch, sondern gemäss seiner eigentlichen Berufung eigentlich Experte für die digitale Sicherheit. Ihm kommt gelegen, dass er dank seines Vaters Kenntnisse im CB-Funken und auch die passenden Gerätschaften zur Verfügung hat und dank Datenverbindungen übers 11-Meter-Band online recherchieren kann, während alle anderen offline sind – ein Detail, das mir ausgezeichnet gefallen hat.

Nelson Carius und seine Partnerin Diana Winkels kommen bei ihren Ermittlungen den Leuten auf die Spur, die hinter den Ausfällen stecken könnten – es scheint sich um Cyberterrorismus auf europäischer Ebene zu handeln. Sie geraten an den ehemaligen Spielentwickler Magnus Dekker, der wegen einer groben Urheberrechtsverletzung jahrelang im Knast sass und heute Experte für Netzwerksicherheit ist. Er zeigt sich kooperationsbereit und bringt die Ermittler auf die Spur: Er hat seinen Ursprung beim Internet-Knoten DE-CIX in Frankfurt am Main. Doch so genial Dekker auch ist, er kann nicht verhindern, dass im Verlauf der Geschichte der Netzwerkknoten durch eine Bombe ausgeschaltet wird.

Rechtsterroristen, die aber nur Handlanger sind

Nachdem das Internet ausgefallen, der öffentliche Verkehr weitgehend zum Erliegen gekommen und auch der private Verkehr nur noch eingeschränkt funktioniert, die Versorgungslage kritisch wird, die Preise steigen, der Schwarzhandel floriert, der Rechtsstaat vor dem Zusammenbruch steht und Verbrechen und Anarchie um sich greifen, kommen die Ermittler der Ursache auf die Spur: Es handelt sich um Rechtsterroristen, die die freie Volksrepublik Deutschland aus der Asche der Zivilisation auferstehen lassen wollen und für ihren letzten Schlag einen Angriff auf den Bundestag vortäuschen, um gleichzeitig im Bundeskanzleramt die Regierung auszuschalten.

Unter Lebensgefahr kann Nelson Carius das verhindern, während Daniel Faber dem eigentlichen Drahtzieher auf die Spur kommt: Es ist, natürlich, Magnus Dekker, der in seinem C64-Spiel «Bug Attack» ein verräterisches Easter Egg hinterlassen hat. Er ist Cicada 3301, der sich für seinen Gefängnisaufenthalt rächen will – die Rechtsterroristen und Anarchisten, die er dafür mobilisiert hat, waren bloss seine Handlanger:

Ich habe die Gamer-Szene revolutioniert, ich allein habe Spiele für die Menschheit zugänglich gemacht – jeder konnte sich fortan den Spass leiste, es war nicht mehr nur ein Privileg für Betuchte. Und der Dank dafür? Man sperrt mich für Jahre in dieses miese Drecksloch, statt mir einen Orden zu verleihen.

Aber darum gleich die Welt ins Chaos stürzen? Das begründet Dekker wie folgt:

Pah! Wissen Sie was: Der eigentliche Systemfehler ist unsere parlamentarische Demokratie, sind die Schwächen der Politikerkaste und der Eliten.

Und das ist der Systemfehler des Buchs: Nerds retten die Welt – sie zerstören sie nicht.

Beitragsbild: «Die Zivilisation ist ein dünner Firnis, darunter brodelt die Barbarei.» (Hasan Almasi, Unsplash-Lizenz)

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