Die Welt der digitalen Grafiken ist zweigespalten. Auf der einen Seite gibt es die Pixelbilder. Sie zerlegen ihr Sujet rasterförmig in einzelne Bildpunkte. Diese Methode eignet sich bestens für Fotos und fotorealistische Motive mit vielen feinen Details.
Auf der anderen Seite gibt es die Vektorgrafiken. Sie bestehen aus geometrisch konstruierten Einzelteilen: Aus Kreisen, Linien und den Bézier-Kurven.
Diese Kurven verdanken ihren Namen dem französischen Ingenieur Pierre Bézier, der in den 1960er-Jahren für Renault arbeitete und eine Methode erdachte, um die geschwungenen Karosseriekurven in der CAD-Software zu erfassen. Die Bézierkurven weisen Knotenpunkte auf, die den Verlauf der Kurve vorgeben. Die Knoten definieren spitze Ecken ebenso wie sanfte, geschwungene Richtungswechsel. Die modernen Computerschriften werden über Bézierkurven aufgebaut, weil sich die Zeichen so qualitativ hochwertig, aber dennoch sehr sparsam beschreiben lassen – eine Handvoll Knoten ist in aller Regel pro Zeichen ausreichend.
Möglichkeiten zur verlustfreien Bearbeitung
Da Vektorgrafiken die Objekte geometrisch beschreiben und keine Rasterung verwenden, lassen sie sich beliebig vergrössern, oder dass einzelne Bildpunkte sichtbar werden. Ausserdem lassen sich die Bestandteile der Grafik jederzeit ändern, umherschieben, skalieren und löschen, was bei Pixelgrafiken nicht oder nur mit viel grösserem Aufwand möglich ist. Bei den Rasterbildern muss man zuerst die zum Objekt gehörenden Pixel isolieren, d.h. auswählen, um mit ihnen arbeiten zu können.
Für grafische Gestaltungen, Illustrationen, Geschäftsgrafiken, Logos, Diagramme oder Pläne eignen sich Vektoren somit besser als Pixel. Dennoch sind Vektorgrafikprogramme viel weniger verbreitet als die klassischen Bildbearbeitungs-Werkzeuge. Das liegt vor allem daran, dass wegen der Digitalfotografie viele Leute gezwungenermassen ein Bildbearbeitungsprogramm einsetzen, während Vektorgrafik die Domäne von Grafikern und Illustratoren bleibt. Dennoch – im Büroalltag und für illustrative Zwecke lohnt es sich, ein solches Programm in petto zu haben.
Über die typischen Mängel sollte man grosszügig hinwegsehen
Inkscape ist ein kostenloses Vektorgrafikprogramm, das 2003 als Abspaltung des damals populären Programms Sodipodi, das seine Ursprünge in der Linux-Welt hat. Inkscape läuft unter Windows, Mac OSX und Linux, und weist einige der typischen Mängel eines Open-Source-Programms auf. Es macht unter Windows und Mac einen eher trägen Eindruck, es gibt Fragezeichen bezüglich der Benutzerfreundlichkeit und die Software ist auch nicht optimal an die Eigenheiten der verschiedenen Betriebssysteme angepasst. Die grosse Zahl an Werkzeugen und die umfassende Unterstützung für Dateiformate macht es zu einem Muss für den ambitionierten Computerbenutzer.
Inkscape verwendet eine klassische Bildschirmoberfläche: Links sind die Zeichenwerkzeuge. Die Symbolleiste am oberen Rand hält die Befehle für die Verwaltung der Dokumente und der Ansicht bereit. Ausserdem gibt es eine kontextsensitive Symbolleiste, über die sich die Eigenschaften des gerade ausgewählten Objekts bzw. Werkzeugs einstellen lassen. Am unteren Rand findet sich eine Farbpalette, rechts wichtige Befehle zur Bearbeitung von Kurven und Knoten.
Die Standard-Werkzeuge gilt es zu beherrschen
Mit den Zeichenwerkzeugen am linken Rand arbeitet man zur Hauptsache. Es gibt verschiedene Herangehensweisen: Mit dem Freihand- oder dem Bézier-Werkzeug kann man seine Elemente aus der Hand zeichnen. Es ist ebenso möglich, seine Objekte aus geometrischen Standard-Elementen aufzubauen – aus Kreisen, Rechtecken oder Polygonen, die man mit den entsprechenden Tools im Dokument aufzieht. Über die Leiste am unteren Rand weist man seinen Objekten eine Farbe für die Füllung und Kontur zu. Kontur oder Füllung können auch unsichtbar sein und es ist möglich, die Dicke der Kontur zu bestimmen. Nebst uniformen Farbflächen kann man Objekte auch mit Verläufen oder mit Mustern füllen – Verläufe sind beispielsweise enorm hilfreich, um eine dreidimensionale Wirkung zu erzeugen und den Objekten Tiefe zu geben.
Vorhandene Objekte können mit verschiedenen Methoden bearbeitet werden. Über das Knotenwerkzeug verschiebt man einzelne Bézier-Knoten. Indem man die vier Ecken eines Rechtecks nach aussen zieht, erstellt man einen einfachen Stern. Objekte lassen sich drehen, spiegeln, scheren, vergrössern und verkleinern. Es ist möglich, auf einer Linie Knotenpunkte hinzuzufügen oder Knoten zu löschen. Durch Arbeit an den Bézier-Knoten bessert man grob gezeichnete Freihandpfade manuell aus, bis sie so präzise sind, wie man sie haben möchte.
Überaus nützlich sind auch die Befehle im Menü Pfade. Der Befehl Vereinigung verschmilzt alle Objekte zu einem einzigen. Legt man beispielsweise ein langes und ein hohes Rechteck übereinander und verschmilzt sie, erhält man ein einfaches Kreuz. Der Befehl Differenz stanzt das eine Objekt aus dem anderen heraus. Hat man einen kleinen und einen grossen Kreis konzentrisch ausgerichtet, erhält man mit dem Differenz-Befehl einen Ring. Auf analoge Weise lassen sich Objekte auch zerlegen oder zerschneiden.
Spezialtools für die Fortgeschrittenen
Inkscape bietet neben den grundlegenden Werkzeugen auch viele Spezialtools für Spiralen, dreidimensionale Elemente. Es gibt ausgeklügelte Verformungs-Methoden und eine grosse Anzahl an Filtern, mit denen man beispielsweise Kanten aufrauen, Objekte verzerren und wölben oder mit Transparenz versehen kann. Es ist möglich, Texte in normale Vektorobjekte zu verwandeln, wodurch man sie wie jedes andere Element in der Zeichnung bearbeiten kann.
Mit all diesen Möglichkeiten muss man sich aber nicht von Anfang an auseinandersetzen – einfachere Projekte, an die man sich als Neueinsteiger erst einmal heranwagen sollte, bewerkstelligt man auch mit den aufgezählten Standard-Werkzeugen. Wichtig ist indes zu wissen, dass Objekte in verschiedener Reihenfolge auf der Arbeitsfläche liegen können. Zeichnet man ein neues Element, kommt das normalerweise auf die bereits vorhandenen zu liegen.
Möchte man diese Reihenfolge ändern, und beispielsweise das ältere Objekt zuoberst haben, dann verwendet man die Befehle im Menü Objekte. Der Befehl Absenken versetzt das Objekt eine Stufe nach hinten. Analog kann man Elemente auch anheben, nach vorn bringen (Befehl Nach ganz oben anheben) oder ganz nach hinten schicken (Nach ganz unten absenken).
Keine triviale, aber eine bewährte Software
Fazit: Inkscape ist keine triviale, aber äusserst brauchbare, bewährte Software, die nicht nur das Vektorgrafikformat des Internets, SVG öffnen und speichern kann, sondern sich auch auf viele weitere Formate versteht: Die Windows-Formate WMF und EMF sind ebenso vertreten wie Adobe Illustrator (AI), das PDF-Format, CorelDraw (CDR) und AutoCAD (DXF). Selbst wenn man keine Ambitionen zum Grafiker oder Illustrator hat, kann man sich mit dieser Software behelfen, wenn eine Vektorgrafik bearbeitet, gedruckt oder inspiziert werden muss.
Was den Download angeht: Die Website inkscape.org weist die eingangs erwähnten, für Open-Source-Programme typischen Mängel auf: Sie ist unübersichtlich und nicht einfach zu benutzen. Man kann Inkscape daher auch einfach bei einer der grossen Software-Plattformen herunterladen, etwa bei heise.de.