Bei einem kleinen Schwatz mit meinem verehrten Tagi-Kollegen Martin Läubli bin ich neulich auf ein tolles Thema für meine Rubrik Tech-Premiere gestossen.
Es gehört zu den einleuchtenden Errungenschaften in klassischen Sciencefiction-Geschichten. Es vermittelt den technischen Fortschritt auf fassbare Weise und ist leicht verständlich: Jeder, der schon mal ein Telefon gesehen hat und weiss, was ein Fernseher ist, kann nachvollziehen, auf welche Weise sich die beiden Geräte kombinieren lassen.
Das Bildtelefon kommt in Rainer Werner Fassbinders Fernseh-Zweiteiler von 1973 vor, in Welt am Draht – und in Metropolis von Fritz Lang von 1927.
Aber in Büchern wurde es noch ein paar Jahre früher erfunden. Allerdings nicht unter den Begriffen «Bildtelefon» bzw. «video telephone». Sie tauchen gemäss dem Google Books Ngram Viewer ab 1943 auf.
Nun wusste ich zufällig, dass das Bildtelefon Thema im Buch Ralph 124C 41+ von Hugo Gernsback war, einer Sciencefiction-Geschichte, die ab 1911 in der Zeitschrift «Modern Electrics» veröffentlicht worden ist. Gleich zu Beginn der Erzählung, die es hier im Volltext zu lesen gibt, werden wir mit einem Apparat vertraut gemacht, der «Telephot» genannt wird:
Er war Ralph 124C 41+, einer der grössten lebenden Wissenschaftler und einer der zehn Männer auf dem ganzen Planeten Erde, die das Pluszeichen hinter ihrem Namen verwenden durften. Er ging zum Telephot an der Wand und drückte eine Reihe von Knöpfen. Nach wenigen Minuten leuchtete die Frontplatte des Telephot auf und enthüllte das Gesicht eines glatt rasierten Mannes um die dreissig, ein angenehmes, aber ernstes Gesicht.
Wir lernen daraus, dass es in dieser Retro-Zukunft mehrere Minuten dauert, bis eine Videoverbindung aufgebaut ist. Vor allem wissen wir jetzt aber, mit welchem Begriff wir unsere Recherchen anstellen müssen. Nebst Telephot existieren auch die Schreibweise «telephote» und den Begriff «Telephonoskop» (Telephonoscope). Dazu verrät Wikipedia:
Ein Telephonoskop war ein frühes Konzept des Bildtelefons und des Fernsehens, das in den späten 1870er bis 1890er Jahren entwickelt wurde. Es wurde in verschiedenen frühen Science-Fiction-Werken erwähnt, wie z. B. in Le Vingtième Siècle : La Vie électrique und anderen Werken von Albert Robida. Sie wurde auch in Karikaturen von George du Maurier als fiktive Erfindung von Thomas Edison skizziert, unter anderem am 9. Dezember 1878 in der Zeitschrift «Punch».
Die 610 Erfindungen des Herkules-Hirns
Und in der Tat: Zu diesen Stichwörtern werden wir (via E-newspaperarchives) auch in Schweizer Zeitungen fündig. In der Ausgabe vom 16. August 1889 von «Le national suisse» heisst es – in einem Stil, der nicht mehr ganz den heutigen journalistischen Gepflogenheiten entspricht –:
Die Ankunft von Herrn Edison in Paris hat die wissenschaftliche Welt der Grossstadt in Aufruhr versetzt; dieser Wissenschaftler, dessen Gehirn, das die zwölf Arbeiten des Herkules verachtet, bereits sechshundertzehn Erfindungen hervorgebracht hat, kommt nach Frankreich und trägt in den Falten seines Mantels eine Innovation, die bereits grosses Aufsehen erregt hat: das Telephote.
Dieses Telephote wurde bereits von einem jungen französischen Wissenschaftler, Herrn Courtonne, beansprucht, der übrigens einen Bericht verfasst hat, der in einem versiegelten Umschlag sorgfältig verschlossen und der Akademie der Wissenschaften zur Aufbewahrung anvertraut wurde. Herr Courtonne arbeitet nun schon seit fünf Jahren an seiner Entdeckung und macht sich keine Sorgen, dass seine Rechte von Herrn Edison verletzt werden, der übrigens noch viele andere ruhmreiche Titel vorzuweisen hat.
Nach den Erklärungen von Herrn Courtonne besteht das Telephote aus folgendem: Es ist ein Gerät, das darin besteht, das Sehvermögen über eine Entfernung zu transportieren: Es handelt sich natürlich nicht um ein Teleskop, das keine originelle Entdeckung darstellen würde. Der Sehstrahl wird einfach durch die daran befestigten elektrischen Drähte an den Ort transportiert, den man betrachten möchte: Da Marseille durch diese Drähte mit Paris verbunden ist, kann man sozusagen seine Augen auf die Cannebière verlegen und mühelos alles verfolgen, was dort geschieht.
Warum ist aus dieser eindrücklichen Erfindung dieses jungen französischen Wissenschaftlers nichts weiter bekannt? Warum heisst die App fürs Videotelefonieren Facetime und nicht Courtonnes Telephote?
Eine Ausgeburt des französischen Nationalismus?
Das ist eine Frage, die schon andere zu klären versucht haben. Etwa der Betreiber dieser Website zur Geschichte des Fernsehens: Sie führt aus, dass die angebliche Erfindung damals nicht nur im «Le national suisse» Schlagzeilen gemacht hat, sondern auch in französischen, belgischen und einigen englischen Zeitungen. Aber wer dieser Herr Courtonne war, lässt sich nicht eindeutig festmachen. Nicht einmal sein Vorname lässt sich eruieren:
Man kann sich fragen, ob dieses Courtonne-Telefon nicht einfach eine Erfindung der Presse ist, um dem französischen Nationalismus einen Dienst zu erweisen. Die Berichterstattung der Groschen-Zeitung «La Petite République» ist besonders knackig. Die Zeitung vergleicht die angekündigten Fristen für die Experimente der beiden Erfinder (zwei Jahre für Edison, sechs Monate für «Courton») und kommt zum Schluss, dass «Edison also achtzehn Monate hinter seinem Konkurrenten zurückliegt». Daher die Schlagzeile «Edison geschlagen» und die Pointe: «Häng (dich) auf, Edison!».
Der ausführlichste Artikel erschien am 9. August in «Le Voltaire» und wurde am 10. August in «Le Petit Républicain» (Toulouse) abgedruckt. Der Journalist Georges Robert, der angibt, Courtonne getroffen zu haben, weist darauf hin, dass dieser keine Einzelheiten nennen möchte: Er habe das Prinzip gefunden, es blieben noch «einige endgültige Experimente» zu machen, aber «die Erfindung ist gemacht und wird in drei Monaten öffentlich sein». Dazu wird es natürlich nicht kommen. In der Zwischenzeit doziert der Journalist über die Verwendungsmöglichkeiten der Erfindung:
- Militärs können die Bewegungen feindlicher Truppen beobachten.
- Journalisten können Ereignisse beschreiben, ohne sich zu bewegen.
- Reisen wird nicht mehr nötig sein.
Ob Zeitungsente oder ein wissenschaftlicher Fehlschlag können wir im Rahmen dieses Blogposts leider nicht klären. Eines ist indes gesichert: Thomas Alva Edison war 1989 tatsächlich in Paris. Er hat die zehnte Weltausstellung besucht, der wir auch den Eiffelturm verdanken.
Die Wirklichkeit ist wahnsinnig banal
Aber eine Sache finde ich bemerkenswert: Nämlich, wie faszinierend dieses Bildtelefon in den retrofuturistischen Erzählungen war – und wie banal es im Vergleich im heutigen Leben tatsächlich ist. Wir telefonieren nicht nur mit einer Person per Bild, sondern via Zoom, Google Meet und Webex sogar mit Dutzenden. Aber es ist nicht aufregend und futuristisch, sondern meistens ermüdend und zäh. Denn die technischen Hürden haben die Sciencefiction-Autoren offensichtlich nicht vorhergesehen: die Latenz, die Aussetzer und schlechten Mikrofone.
Beitragsbild: So toll hätte das sein können (Dall-e 3 zum Prompt «A man uses a large, bulky, analog video phone with a black and white tube monitor on which a young woman can be seen. The surroundings, the clothes and the fashion correspond to the style of the 1950s, the style is realistic»).