Jetzt haut sie mich doch aus den Socken!

Es kommt selten vor, dass ich nach so kurzer Zeit mein Urteil revidieren muss. Doch bei Photoshop Camera ist das der Fall: Ich habe die App bei meiner ersten Besprechung ein bisschen unterschätzt.

Vor Kurzem habe ich die App Photoshop Camera hier im Blog besprochen. Das Fazit damals war, dass sie mich noch nicht wirklich aus den Socken haut.

Doch das hat sich erstaunlich schnell geändert: Seit meinem Beitrag sind einige neue Linsen dazugekommen. Die Linsen sind, wie im Beitrag beschrieben, die Methoden zur Bildverfremdung. Sie wirken auf den ersten Blick wie ein Instagram-Filter. Doch sie gehen weit über einen simplen Effekt hinaus, der einfach nur übers Bild gelegt wird.

Die Linsen sind teils komplexe Algorithmen, die das Kamerabild live und in Echtzeit in Einzelteile wie Vorder-, Mittel- und Hintergrund zerlegen. Auf diese Weise können diese Elemente einzeln ausgetauscht, überlagert oder verändert werden.

Die App hat ihr wahres Potenzial erst nach meinem ersten Test ausgespielt

Bei meinem ersten Augenschein habe ich eine Linse getestet, die den Himmel durch Varianten mit unterschiedlicher Bewölkung ersetzt. Das ist ohne Zweifel ein direkt aus dem Leben gegriffenes Einsatzgebiet. Aber es ist auch nicht extrem spektakulär: Erstens ist es relativ einfach, im Bild den Himmel zu isolieren. Und zweitens gibt es diverse Bildbearbeitungs-Apps mit entsprechenden (siehe z.B. Echte Landschaften in Landschaftsfiktionen verwandeln).

Beeindruckt war ich aber von der Linse Pride von Mr. Dazzle. Sie umhüllt die Personen mit einem geometrischen Regenbogenband. Das demonstriert die beeindruckenden Fähigkeiten der App, die Objekte im Bild zu unterscheiden.

Noch weiter geht die Billie-Eilish-Flügel-Linse: Sie ersetzt den ganzen Hintergrund durch eine himmel-höllische Szenerie und flantscht der Hauptperson Engelsflügel an den Rücken. Und auch wenn sie das nicht auf Hollywood-Qualitätsniveau tut, so steht ausser Frage, dass der gleiche Effekt mehrere Stunden Arbeit bedeuten würde, müsste man ihn von Hand in Photoshop ausführen.

Ich als Engel – steht mir gut

Ich führe beide Linsen im Video vor, plus zwei, drei der «harmloseren» Effekte. Und dabei zeigt sich, dass Photoshop Camera auch für Videos geeignet wäre. Bislang macht die App aber nur Standbilder – doch wie ich auch im Video sage, ist das erst der Anfang. Wie schon im ersten Beitrag angedeutet, steht ausser Frage, dass in dieser App ein grosses Potenzial schlummert.

Die Zukunft der Fotografie ist da

Bleibt die Frage, wie gross das Potenzial ist. Im Video behaupte ich, wir würden hier die Zukunft der Fotografie sehen. Bei dem Titel ist etwas Clickbaiting dabei – aber wirklich nur ein bisschen. Ich bin überzeugt, dass die App bewirkt, dass Produktion und Postproduktion näher zusammenrücken. In ein paar Jahren werden viele Arbeitsschritte, die wir heute noch nachträglich erledigen, direkt während des Fotografierens erledigen. Und darauf lasse ich mich gerne behaften.

Es gibt auch andere Entwicklungen, die in diese Richtung weisen. Hollywood ist dabei, den Greenscreen überflüssig zu machen. Mit einer Plattform namens StageCraft und Technologie aus der Gaming-Welt erscheinen Szenen über riesige LED-Wände mit 28 Millionen Pixeln schon während der Aufnahme im Bild. Klar – das ist ein gänzlich anderer Ansatz, und die Kostüme werden auch nicht überflüssig. Aber spannend ist es trotzdem.

Die App stösst auf gewaltige Ablehnung

Interessant übrigens: Die Kommentare unter dem Artikel waren durchs Band ablehnend: «Je mehr wir sogar unsere kreativen Tätigkeiten den Rechnern überlassen, desto einheitlicher und repetitiver wirken die Resultate», schreibt einer.

Das stimmt natürlich – aber nur so lange wir vorgefertigte Linsen verwenden. Sobald es die Möglichkeit gibt, eigene Linsen zu bauen, wird das Resultat genau wie bei der nachträglichen Bildbearbeitung von den Fähigkeiten des Nutzers abhängen.

«Bilder nachbearbeiten und all diese ‹Effekte› hat (sic!) in Wirklichkeit mit Fotografie nichts zu tun», meinte ein anderer.

Da bin ich konträrer Meinung. Es gibt zwar die dokumentarische oder journalistische Fotografie, die das Ziel hat, die Wirklichkeit so direkt und unverfälscht abzubilden. Aber selbst die interpretiert diese Wirklichkeit – über den Bildausschnitt, die Belichtung, Kontrastverhältnisse und den Aufnahmemoment.

Es gibt nicht die einzig wahre Fotografie

Fotografie als künstlerische Disziplin hat die Wirklichkeit schon immer verfremdet, verändert und als Vehikel für eine persönliche Aussage genutzt. Und wirklich, ich bin gespannt, ob Leute wie Uli Staiger (Mit Liebe zum Detail Surreales erschaffen) und John Wilhelm die App nutzen – und falls ja, was sie aus ihr herauskitzeln werden.

Beitragsbild: Seht ihr? Keine Socken! (Frank Vessia, Unsplash-Lizenz)

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