Ich war während gut einer Dekade Mitglied bei der Gewerkschaft Syndicom. Ich war nicht das, was man ein aktives Mitglied nennt, denn dafür hatte ich sonst zuviel am Hut. Und ich bin generell nicht der Vereinsmeier. Aber ich hielt es für wichtig, Solidarität zu zeigen.
Anfangs Jahr, als wieder einmal eine Rechnung für den Mitgliederbeitrag kam, bin ich in mich gegangen. Was ist der Gegenwert für meinen Mitgliederbeitrag? Es gibt hier und da einen Rabatt abzustauben. Aber da ich nicht der Rabattjäger bin (und immer erst zu spät an diese Angebote denke), habe ich in meiner Karriere kein einziges Mal ein solches Angebot in Anspruch genommen.
Tut die Gewerkschaft wirklich etwas für mich?
Doch Rabatt oder nicht ist nebensächlich. Entscheidend ist die Frage, ob die Gewerkschaft irgendetwas an meiner Arbeitssituation verbessert hat. Und da ist mir eben auch nichts eingefallen. Es ist nun wieder von einem GAV die Rede. Und wir haben beim Tagi eine Arbeitszeiterfassung. Die notabene nichts verändert, weil «Überstunden beim Journalismus dazu gehören».
Ich habe mich also entschlossen, meine Mitgliedschaft zu künden. Und siehe da, an dieser Stelle habe ich es zum ersten Mal ernsthaft mit Syndicom zu tun bekommen. Es kamen nämlich weiterhin Rechnungen und Mahnungen, plus die Belehrung, die Statuten würden irgend eine Kündigungsfrist (oder was weiss ich) vorsehen.
Reisende werden aufgehalten
Klar, Statuten sind Statuten, auch wenn ich der Meinung bin, dass man Reisende nicht aufhalten soll. Ihnen noch einmal (fast) einen Jahresbeitrag abzuknöpfen, ist einem harmonischen Abschied nicht förderlich. Vorher hatte ich die Option offen gehalten, irgendwann zurückzukommen. Aber als statt eine Antwort auf mein nettes Mail die Betreibungsandrohung kam, habe ich diesen Gedanken verworfen.
Mein Eindruck an dieser Stelle: Gewerkschaften sind vor allem dazu da, sich selbst zu erhalten. Die Mitglieder sind das notwendige Übel zu diesem Zweck. Klar, man kann nun einwenden, ein passiver Hinterbänkler wie ich hätte nicht viel Anrecht darauf, sich hinterher zu beklagen. Ich meinerseits bin überzeugt davon, dass es Syndicom geschafft hätte, mich abzuholen, wenn das nicht so ein behäbiger Moloch wäre, bei dem vor allem die Buchhaltung läuft wie geölt.
Wo ist der Einfluss bei den Debatten im Netz?
Aber anekdotische Evidenz mal beiseite: Welche Bedeutungen haben Gewerkschaften heute noch? Annähernd keine. Der Twitter-Account von Syndicom (585 Follower) hat in fünf Jahren 1047 Tweets veröffentlicht. Das schafft ein streitbarer Twitterer im Alleingang an einem guten Wochenende.
In der Woz finde ich in den letzten fünf Jahren geschlagene 47 Artikel zum Stichwort «Syndicom». Eine heisse politische Debatte sieht anders aus. Denn man sollte nicht vergessen, dass die Syndicom 12 Branchen von ITC bis Visuelle Kommunikation vertritt, und mit dem Medienwandel, Rechtsrutsch und exzessivem Wirtschaftsliberalismus genügend Themen auf der Strasse liegen würden.
Doch auch der Tagi schrieb schon 2014 vom Niedergang der Gewerkschaften. Es gibt einen Mitgliederschwund (Mitte der 1970er-Jahre waren 30 Prozent der Erwerbstätigen gewerkschaftlich organisiert, heute sind es knapp 15 Prozent.). Der Artikel führt viele Gründe auf, aber letztlich wird es daran liegen, dass man nicht den Eindruck hat, dass die Gewerkschaften den immer forscher fordernden Arbeitgebern etwas entgegenzusetzen haben.
Es braucht die Gewerkschaft 2.0
Fazit: Es braucht die Gewerkschaft 2.0, eine Grassroot-Bewegung, mehr echtes Engagement und weniger Apparat. Leute, die im Facebook- und Twitter-Zeitalter Kampagnen führen können, den Shitstorm beherrschen und schnell reagieren können – wieso nicht mit einer WhatsApp- oder Slack-Gruppe der Mitglieder innerhalb eines Unternehmens?
Dein Text passt zu den schweizerischen Grossgewerkschaften mit ihren Funktionären (meist in Bern) und ihrem politischen Überbau, der häufig nicht den Interessen der «vertretenen» Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dient – zumal diese Interessen bei einer Grossgewerkschaft weit auseinandergehen. Dazu kommt, dass die Grossgewerkschaften aufgrund der Personenfreizügigkeit, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ohne Zweifel schadet, immer weniger auf Mitgliederbeiträge angewiesen sind … einige Grossgewerkschaften, so auch die von Dir erwähnte, kuscheln teilweise regelrecht mit den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern.
In der Schweiz gibt es aber vergleichsweise erfolgreiche Gewerkschaften, nämlich die kleinen Fachgewerkschaften, häufig mit mehrheitlich Miliz-Funktionären. Social Media-Kampagnen sind allerdings normalerweise nicht notwendig, die – häufig harten – Verhandlungen werden nicht online oder gar in der Öffentlichkeit geführt, der Erfolg muss hinter verschlossenen Türen erarbeitet werden. Mit einem «Shitstorm» erreicht man vielleicht Medienöffentlichkeit, riskiert aber immer, die Sozialpartnerschaft zu zerstören.
Ausserdem gilt immer, dass eine Gewerkschaft so organisiert sein muss, dass sie glaubwürdig vermitteln kann, streikfähig zu sein. In der Schweiz sind viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht streikbereit, eher noch in der Romandie, wo je nach Branche viele Franzosen arbeiten. Und selbstverständlich kann eine Gewerkschaft nur dort funktionieren, wo Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht ohne weiteres ersetzbar sind. Wer streikt oder sich überhaupt wehrt, riskiert ausserdem, in der Schweiz keine Stelle mehr zu finden. «Lohnsklaven» müssen in der heutigen Zeit gesamtschweizerisch arbeitsmarktfähig bleiben, ansonsten ist es einem Leben in Wohlstand von einem Tag auf den anderen vorbei, denn nicht jeder kann in die überdurchschnittlichen Arbeitsbedingungen beim Staat flüchten.